Jesus im Trubel
Der Moritzplatz in Augsburg. Seit ich vor kurzem nach Augsburg gezogen bin, genieße ich es, an diesem Knotenpunkt der Stadt vorbeizukommen. Gefühlt von allen Seiten bimmeln und rattern die Straßenbahnen. Und gleichzeitig wuseln von allen Seiten die Menschen. Es ist wie ein Ballett, das die Augsburger:innen mit den Tramwägen tanzen – von lässiger Eleganz. Langsam bekomme auch ich die Lockerheit dazu hin.
Und an allen Rändern trubelt es. Eine Studentengruppe schnattert sich vom Karstadt in meine Richtung herbei. Ein gemütlicher Hundebesitzer pafft eine dichte E-Zigaretten-Wolke aus und die Lastenradmama versucht, diese Wolke zu umfahren. Unter der überdachten Galerie verkaufen die Imbisse ihre Waren an die ersten Mittagshungrigen, einer im Businessanzug bemüht sich sein Essen to go von der gestreiften Krawatte wegzuhalten. Und gegenüber im Schuhladen räumt jemand die Auslage mit den silbernen Sandalen raus. Aus der riesigen Plastikerdbeere lächelt die Verkäuferin über die 500-Gramm-Schalen mit Erdbeeren aus der Region hinweg. Während ich über die Straße gehe und auf die Platanen zu, flattern die Tauben auf. Ich liebe die Stimmung am Moritzplatz. Und ich liebe es auch, diese Stimmung hinter mir zu lassen.
Der Moritzplatz heißt nach St. Moritz, einer der großen katholischen Kirchen der Innenstadt. Ihr Kirchenportal ist metallen und schwer – wie man es erwarten würde, irgendwie. Aber sobald es hinter mir zuschwingt, ist die Stimmung ganz verändert. Nicht nur, weil der Trubel außen bleibt. Sondern weil der Raum wider Erwarten ganz anders ist. Beim ersten Besuch hätte ich barocke Engel und Gold erwartet. Heute freue ich mich schon jedesmal auf den weißen Raum. Auf die hohen, weißen Fenster. Auf die Weite, die sich gefühlt nach allen Seiten erstreckt, links, rechts, vorne, oben. So gastlich – vielleicht gerade, weil es so eigentümlich leer ist. Hier ist Platz für das, was ich mitbringe und für das, was auf mich zukommt.
Ganz vorne steht eine Figur von Jesus. Genau in der Mitte, mannhoch, eigentlich klein in dem gewaltig hohen Altarraum – aber gerade dadurch so lebendig. Sie zieht meinen Blick an. Eine Figur aus dunklem Holz, anscheinend viel älter als die weißen Wände. Dieser Jesus ist voller Bewegung, dynamisch ein Arm in der Luft, die Haare wehen wie im Wind, und sein ganzer Körper ist in Bewegung. Auf mich zu.
Ich geh vom Eingang ein paar Schritte in die Kirche hinein. Ich atme durch, setze mich in eine Bank. Es ist ein guter Ort hier.
Aber nach einer Zeit denke ich: Was, wenn der Jesus aus Holz vorne im Altarraum sich wirklich in Bewegung setzen würde! Es braucht gar nicht viel Fantasie, er wirkt ohnehin schon so lebendig. Ich stelle mir vor, wie er die Stufen zum Altar hinuntertanzt, den Altar umrundet, wieder die Stufen hinab und dann mit schnellen Schritten den Mittelgang entlang – und möchte schon fast aus meiner Bank aufstehen! Ich will nicht, dass er an mir vorbeirauscht.
Aber er schaut mich im Vorbeigehen an und ich steh mit auf und gehe ihm nach, wie er mit Schwung das Kirchenportal ansteuert, alle festen Bankreihen ignorierend. Ich stelle mir vor, wie er kraftvoll die schweren Türen auseinanderdrückt. Und von außen klingt das Gebimmel der Tram und das Hupen der zurücksetzenden LKWs herein. Ich spüre die Unruhe in mir. Wo gehst du hin, Jesus, raus auf den Platz, wo es trubelt? Raus ins Leben? Du bist in Bewegung, Jesus – wie bin ich in Kontakt mit dir?
Ikea-Haltung
Liebe Hörerinnen, liebe Hörer – es ist nur eine Holzfigur von Jesus dort in der Moritzkirche. Aber ihre bewegte Form bringt in mir die Frage zum Klingen: Wohin gehst du, Jesus: Ist es ein Weg hinein in die Welt, auf den Moritzplatz und an die anderen Plätze dieser Welt und meines Lebens? Oder finde ich dich, wenn ich die Welt hinter mir lasse – quasi in einem weiten, weißen Raum, wo ich etwas Unsichtbares erwarten soll? Oder beides?
So, wie ich da in der Moritzkirche bin, so fühlt sich eine Stelle in der Bibel für mich an. Ich schlage sie immer wieder auch, ich bin einfach nicht fertig mit ihr. Rein oder raus?
Als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu Jesus: ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.
Ich denke an meine neue Wohnung in Augsburg. Was bin ich froh, dass nach drei, vier Übergangsmonaten alles umgezogen und eingeräumt ist. Verrückt, wie lange es jedesmal braucht, bis alles wieder seinen Platz gefunden hat! Ich liebe es einzurichten. Es macht mich glücklich, wenn genau der richtige Platz für ein Bild auftaucht. Oder wenn ich eine Idee habe, wie wir den Stauraum besser nutzen können.
Aber "sich einrichten", das hat in unserer Sprache eben noch diesen anderen Sinn. So was wie: Nichts Neues mehr erwarten, kein Risiko eingehen, ein wenig träge, ein bisschen "alles soll so bleiben, wie es ist." Ein wenig IKEA-Haltung. "Ich will dir folgen, wohin du gehst", sagt der Mann zu Jesus. Und Jesus antwortet sinngemäß: "Dorthin, wo ich hingehe? Ich gehe nirgends hin – einrichten, kannst du dich nicht, wenn du mit mir unterwegs bist." Jesus ist kein IKEA-Typ. Aber die Kirche als Institution hat eine starke Tendenz dazu – wir, als Institution Kirche, ich bin ja als Pfarrer auch ein Teil davon. Aber der Jesus am Portal von der Moritzkirche winkt uns nach draußen. Raus aus irgendeinem religiösen Eingerichtet-Sein. Auch raus aus unseren Gebäuden.
Oft habe ich den Satz gehört: "In der Kirche hier bin ich getauft, konfirmiert, getraut, dort will ich auch dass mein Beerdigungsgottesdienst gehalten wird!" Für andere hängt besonders viel an den Pfarrhäusern – sie wünschen sich, "dass im Pfarrhaus wieder Licht brennt", wenn eine Pfarrstelle mal einige Monate oder sogar Jahre nicht besetzt werden konnte.
Meistens sind es aber nicht Gebäude, in denen ich mich eingerichtet hab, sondern Abläufe. So was wie "Wir machen das schon immer so". Überhaupt "Wir" – wer ist denn "wir"?
Und ich hör Jesus liebevoll aber außerordentlich bestimmt sagen: Raus! Mir hinterher. "Der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlegt." Raus aus der Bubble! Jesus winkt uns Christinnen und Christen der nächsten Jahrzehnte nach draußen. Wir werden viel wohnungsloser sein als wir es bisher waren. Aber ich finde das manchmal ziemlich anstrengend. Und Jesus hält das offenbar für richtig gut. So hör ich ihn da reden, am Ausgang von St. Moritz. Und bemerke etwas Verrücktes. Während ich Jesus uns noch zur Tür hinausscheuchen sehe, scheint er gleichzeitig aus dem, was ich da draußen finde, herauszurufen!
Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Er aber sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!
Reich Gottes. Da deutet er hin! Geh! Aber ehrlich gesagt, kann ich das nicht sofort an meine Ohren ranlassen. Weil Jesus diesen anderen heftigen Satz sagt: "Lass die Toten ihre Toten begraben". Ein Satz, der mich immer wieder aufwühlt. Wenn ich eines Tages meine Mutter oder meinen Vater werde begraben müssen, dann werde ich dort sein! Weil ich meine Eltern liebe, weil sie es verdient haben, weil ich für meine Trauer meine Geschwister brauchen werde, und überhaupt, weil ich an dem Ort stehen muss und sehen, wo sie bestattet werden um das irgendwie zu begreifen.
Mehr als alles
Aber ich ahne: Jesus will etwas Gutes mit dem, was er sagt! Er winkt mich in Richtung "Reich Gottes". In meiner unbeholfenen Sprache: In Richtung "Mehr als alles". In Richtung hin zu dem Unsichtbaren, was mich tragen kann, wenn meine Eltern sterben. In Richtung hin zu dem Lebensgewebe, das mich auffangen kann, wenn meine Pläne scheitern. In Richtung zu dem, wodurch ich weiterhoffe, auch wenn der Mensch alle Menschlichkeit verliert – wie jetzt gerade im Ukrainekonflikt. Reich Gottes: Mehr als alles – und manchmal: Wichtiger als alles, was die Welt zu bieten hat. So klingt für mich, was Jesus sagt. Und um in diese Richtung zu schauen, mutet er mir zu, dass ich mich löse.
Ich bin ungefähr sechs Jahre alt. Der Andachtsraum neben unserer Hamburger Kirche ist gleichzeitig gemütlich und nüchtern. Klapptische, Licht durch die Fenster, ein gläsernes Kreuz, ein altes Harmonium im Eck, bei dem man mit zwei Füßen einen Blasebalg treten muss, damit es wunderbar altmodisch tönte. Jeden Sonntag gehen wir Kindergottesdienstkinder hinüber. Einer der Kindergottesdienstmitarbeiter ist mein Vater – und ich finde es besonders cool, wenn er dran ist. Eines Sonntags stellt mein Vater uns die Frage "Wenn Jesus heute zu uns kommen würde, woran würden wir ihn dann erkennen?" Ich weiß leider nicht mehr, was wir Kinder geantwortet haben. Aber ich höre meinen Vater noch sagen: "Auf jeden Fall würde er nicht die Hand aufhalten und sagen ‚Jetzt gebt erst mal Geld‘."
Ein Satz, der mir bis heute nachgeht. Ich glaub nicht, dass ich ihn damals wirklich verstanden hab – höchstens intuitiv, weil ich gemerkt hab: Mein Papa will mich beschützen. Heute verstehe ich den Satz. Es waren die Siebziger. Man konnte lesen, dass viele zu Gurus gehen, um geistliches Leben zu finden. Neben den großen Kirchen entstehen viele neue Freikirchen. Auf öffentlichen Plätzen stehen Prediger, die vom Ende der Welt sprechen. Es werden neue Gemeinschaften gegründet – verbindliche, oft ehelose Zusammenschlüsse von Christinnen oder von Christen. Da gibt es auf einmal viel Platz für Emotionen, wo Kirche vorher eher ziemlich nüchtern war. Radikaler Lebensstil wird gesucht.
Es ist ganz einfach: Meine Eltern hatten Angst, wir Kinder könnten religiösen Rattenfängern auf den Leim gehen, wenn wir die gutbürgerlichen Wege verlassen. Wenn wir jemandem folgen, der sagt: Gib alles auf, geh mit mir mit. Ich verstehe meine Eltern und ihre Befürchtung im Rückblick gut. Gleichzeitig: Wie notwendig war es, dass ich mich selber auf den Weg gemacht habe! Auf meine eigene Suche nach dem "Mehr als alles".
Jesus war ein Mann, der Konflikte zwischen den Generationen ausgelöst hat. So, wie viele sie bis heute kennen, die am Lagerfeuer "Father and Son" mitsingen. Jesus war unglaublich barmherzig und verrückt radikal. Er hat seine Familie zurückgelassen, hat von der Hand in den Mund gelebt. Aber andererseits Menschen zu unglaublichen Mahlzeiten zusammengebracht, wo alle zugelassen waren. Wer Jesus im eigenen Dorf erlebte, der konnte die gegensätzlichsten Sachen sehen. Es konnte passieren, dass Jesus fast gesteinigt wird. Und dann wieder, dass Menschen in seiner Nähe lebenslange Krankheiten abschütteln konnten. So, als wäre das so einfach, wie die eigene Trage zu nehmen, sich die Augen zu waschen oder von ihm berührt zu werden. Manchmal stellt er die Konventionen auf den Kopf: Kinder sind für ihn Vorbilder!
Manche gehen mit. Fasziniert von Jesus, der überall um sich herum das Gottesreich anbrechen sieht. Überall! Als wäre er der Einzige, der den Sommer sieht, während allen anderen die Augen noch verschlossen sind. Offensichtlich erkennt er in allem, was um ihn herum geschieht, Gottes Wirken. Er entdeckt Gottes Wirken in einem Mann, der seinen Sohn in die Arme schließt, obwohl der sein Geld zum Fenster rausgeworfen hat. Er entdeckt das, was Gott tut, in so banalen Sachen wie dem Weizen, der auf den Feldern wächst oder in den Lilien zwischen den Ähren. Auch im Sonnenuntergang entdeckt er einen Hinweis auf das Reich Gottes und sogar in den Steinen der Tempelmauern. Und er sieht in Brot und Wein das Leben. Sogar im Tod sieht er noch Leben - das Leben Gottes.
…faszinierend, verrückt…
Was für eine verrücktes Hineinwinken: Hinein in den Raum Gottes! Hinein in das Leben, in die Liebe Gottes."Lass die Toten ihre Toten begraben". Der Satz ist heftig – aber je mehr ich mir klar mache, wer ihn sagt, umso klarer höre ich: Auf! Rein ins Leben! Glaub doch nicht, dass die Welt schon alles ist …
Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes."
Die Bibel erzählt von einem, der antwortet: Okay, jawohl, ich lass mich von Jesus rausschicken oder rein, wie auch immer, jedenfalls: Ich wag‘s. Ich will dir nachfolgen. Aber dann all das, was zurückhält – vor allem die Familie, "die, die in meinem Hause sind": "Erlaube mir zuvor, dass ich von ihnen Abschied nehme!" Jesus antwortet mit einem Bild, das für das bäuerliche Umfeld, in dem er lebt, sofort einsichtig ist: Du kannst nicht pflügen und dabei nach hinten sehen.
"Schau nach vorne", das sag ich mir selbst schon auch manchmal – oder anderen. Aber ich weiß, dass dieses Nach-vorne-Schauen eben auch bedeutet, zurückzulassen, was hinter einem liegt. Als Seelsorger begleite ich manchmal Menschen, in deren Leben es genau darum geht – und zwar in einer besonders tiefen Weise: Sie müssen aufbrechen, obwohl sie wissen, dass das eben auch einen Bruch bedeutet. Sie beschließen nach langer Überlegung, eine Ehe zu beenden. Sie beschließen nach tiefer Prüfung, eine gefährliche Schwangerschaft nicht fortzusetzen. Sie beschließen, einen Beruf aufzugeben, der sie unglücklich macht. Sie beschließen, mit den eigenen Eltern zu brechen, weil es keine andere Chance gibt, psychisch wieder gesund zu werden.
Das sind alles riesige Entscheidungen, durch die nicht einfach danach alles gut ist, im Gegenteil. Die Entscheidungen tun weh und auch die Konsequenzen. Aber der Pflug ist in die Hand genommen und der Blick ist nach vorne gerichtet. Und die Chance ist eröffnet, dass das Leben wieder seine Kraft entfalten kann.
"Wirst du mir folgen, wenn ich dich einfach beim Namen rufe? Wirst du mitkommen – und zulassen, dass dein Leben nie wieder dasselbe sein wird?" John Bell hat in schlichte, besondere Worte gefasst, wie der Ruf Jesu für ihn klingt. Ganz wunderschön – mit dem kleinen Haken, dass es klingt als ob es eine klare, einmalige "Ja/Nein"-Frage sei. Kommst du mit? Oder nicht?
Ich glaube aber nicht, dass es eine einmalige Frage ist – nicht einmal, dass diese Frage sich immer gleich stellt. Noch weniger, wenn ich so in der Moritzkirche sitze und an dem Bibeltext kaue. Dafür ist Jesus viel zu dynamisch. Es ist nicht ein für alle Mal entschieden, ob der Weg hinaus geht, in den Trubel der vielen Menschen, raus aus dem Mich-Einrichten. Oder ob der Weg hinein geht, konzentriert auf das Reich Gottes – manchmal auch so, dass es einen Bruch braucht. Diese Entscheidung treffen wir wohl ein Leben lang neu und anders und wieder und noch mal und umgekehrt und dann wieder schon.
Ich schaue mir noch mal die Holzfigur an, die ihn darstellt – und natürlich wie immer an ihrem Ort steht. Der eine Arm ist nach oben gereckt, die andere Hand zu mir hin geöffnet. Er schreitet aus, sein ganzes Gewand bauscht sich um ihn herum, scheint geradezu Geräusche zu machen. Wie ein Wind.
Raus mit dir. Rein ins Leben.
Die Evangelische Morgenfeier
"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.05 bis 10.30 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."
Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.