Isolde ist einfach nicht (mehr) totzukriegen. Seit Katharina Wagner, Urenkelin des genialen wie kontroversen Komponisten, die weibliche Leitfigur der "Handlung in drei Aufzügen", wie der Meister selbst seine Oper nannte, am Ende nicht in den Freitod gehen, sondern überleben ließ, scheint das "weiter so" gesetzt zu sein. Im Falle des neuen "Tristan" wird gleich noch eine Schippe drauf gelegt.
"Höchste Lust" von der Wiege bis zur Bahre
Noch bevor der kraftvolle Tenor Stephen Gould und die noch eine Spur intensivere Sopranistin Catherine Foster überhaupt auf der Bühne erschienen sind, sieht man schon während des Vorspiels ein zärtlich in sich versunkenes Kinderpaar hinter dem Vorhang erscheinen. Und als sich der Vorhang nach rund vier Stunden netto Spielzeit wieder senkt, ist Isolde nicht in "höchster Lust", wie Wagner ihre letzten Worte gewählt hat, in den Tod versunken, sondern schaut zu, wie ein Greisenpaar – das natürlich die beiden Protagonisten darstellen soll – lächelnd vor den Vorhang tritt.
Die Liebe überwindet alle Grenzen, auch die vom Leben zum Tode, könnte man meinen – kitschig? Ein bisschen vielleicht. Zumindest dann, wenn ein weiteres Tristan-Isolde-Pärchen in der oberen Reihe des Bühnenbilds kuschelnd den Sternenhimmel betrachten, während die beiden echten Personen sich unten gerade die Seele aus dem Leib singen – das auch manchmal liegend.
Im Rausch der Gefühle
Die Partitur kostet Kraft. Nicht nur den Sängerinnen und Sängern in Sachen Stimme, sondern auch schauspielerisch. Der Handlungsbogen um die beiden unerlaubt Liebenden, die sich zwischen der Solidarität zum eigentlichen Ehemann König Marke und ihren eigenen Gefühlen hin und her gerissen sehen, ist an sich recht dünn. Die Musik und der dadurch bedingte dramaturgische Ausdruck dagegen enorm. Das wird deutlich, wenn beispielsweise nahezu zwei Drittel des gesamten zweiten Aktes praktisch nur die beiden Hauptpersonen auf der Bühne zu sehen sind. Foster und Gould lassen das Geschehen nicht langweilig werden, sondern begeistern mit schauspielerischem Geschick.
Der "Tristan-Akkord", ein seit seinem ersten Hören vor über 150 Jahren bislang musikwissenschaftlich ungelöstes Rätsel wegen seiner schieren Unauflösbarkeit, ist eines der Leitmotive der Oper, das ein Unikum sondergleichen und immer wieder ein Fest für die Ohren ist. Das Orchester unter der Leitung von Markus Poschner weiß um dessen Bedeutung und mit Sicherheit auch, dass es zumindest eine handvoll Freaks im Publikum gibt, die an dem chromatisch-revolutionären Wunder und dessen Interpretation mit den Ohren kleben. Ob heute in einem der geschulten Gehörgänge ein Licht aufgeht? Vergebens. Die kraftvolle verwobene Musik bleibt ein Rätsel, macht aber süchtig. Auch gestandene Koryphäen wie Christian Thielemann geben zu, dass sie auch von diesem Opiat für das Gemüt immer wieder wie beim ersten Mal gepackt werden.
Tristan und Isolde versinken im Strom
Und eigentlich ist die "große Sehnsucht" von Tristan und Isolde, die Dramaturg Christian Schröder inszenieren wollte, auch schon Stoff genug, um eine große Geschichte zu schreiben. Dazu braucht es auch keine ständig wechselnden Bühnenbilder in den drei Aufzügen. Wobei der grundsätzliche Aufbau schon spektakulär genug ist: Der Raum wird von zwei Ovalen am Boden und am Himmel bestimmt, die jeweils Projektionsflächen für Himmel, Wasser und Sterne sind. Während die obere meist ruhig bleibt, spielt die untere verrückt, sobald Tristan und / oder Isolde darauf ihre innersten Zwänge und Verwirrungen aus sich kehren. Mal scheinen die beiden in einen reißenden Sog aus Wasser in die Tiefe zu verschwinden, mal rauschen die Sterne nur so durch das All, dass man sich wie in einer Schlacht bei Star Wars fühlt.
Offen bleibt, was die Buchstabenreihe in Neonschrift bedeuten soll, die während des gesamten Spiels am linken Bühnenrand aufgestellt ist. Des Rätsels Lösung: Die Zeichen sind in Sanskrit und bedeuten sinngemäß "ewiglich" – eine archaische Sprache, ein uraltes Grundbedürfnis und Gefühl wie die Liebe, eine urgründliche Grundaussage, um das Geschehen um Tristan und Isolde zu beschreiben: Ja, Wagner hätte seine Freude an dieser Inszenierung gehabt, greift sie doch wie einst der Schöpfer selbst den Schopenhauer'schen Gedanken einer Rückkehr ins "Ur-Eine" auf, die der Philosoph aus dem Buddhismus und dem Brahmanismus zog.
Gesellschaftskritik vor dem Festspielhaus
Das alles mag für den Gast des Grünen Hügels der vergangenen Jahre erstaunlich wenig Fortschrittliches sein. Bedenkt man die letzten Inszenierungen der Gegenwart, die meist gesellschaftskritisch bis höchst politisch waren, mag der ein oder andere enttäuscht sein, dass es im 2022er-Tristan doch "nur" um große Gefühle geht. Regisseur Roland Schwab will das aber genauso haben und lädt ein, sich so wie Tristan und Isolde der Sehnsucht hinzugeben. Man darf sich darauf einlassen, auch mal ganz ohne tagesaktuellen Bezug.
Überhaupt sorgte für diesen schon einmal der unvermeidliche Auflauf an Promis beim ersten Tag der Bayreuther Festspiele. Thomas Gottschalk führte erstmals seine neue Freundin Karina Mroß auf den Hügel, beide in edelstem Zwirn. Sogar der fränkische Kabarettist Michl Müller tauschte "Dreggsagg"-Shirt gegen Zweireiher.
Auch die frisch verrentete Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ sich auf dem Roten Teppich und später tapfere drei Akte lang in der Ehrenloge sehen. Bizarr, wenn man auf die Bühne blickte und die Isolde mit nahezu derselben Statur, in jedem Fall aber der gleichen Frisur erblickte. Merkel saß neben Karin Baumüller-Söder, Gattin des bayerischen Ministerpräsidenten, der Markus Blume, seinen Minister für Wissenschaft und Kunst mitgebracht hatte, der wie die ebenfalls in der bayerischen evangelischen Landessynode sitzenden CSU-Parteikollegin Barbara Becker anwesend war. Der Bamberger katholische Erzbischof Ludwig Schick sorgte derweil für den geistlichen Beistand.
"Heil Merkel" und "Layla"
Politik war also zumindest in Persona, aber nicht im Geschehen im Festpielhaus anwesend. Dafür aber davor: Während sich Klima-Aktivisten in den Bäumen der Auffahrt zum Hügel angesiedelt hatten, lieferten sich unten eine Menge aus jungen Männern und Frauen mit Antifa- und Grünen-Plakaten einen – zumindest verbalen – Schlagabtausch mit einer vornehmlich satirischen, aber wohl eher rechts orientierten Gruppierung, die mit Bannern und "Heil Merkel"-Schriftzug in Runenschrift der ehemaligen Kanzlerin "huldigten". Über deren Lautsprecher donnerte dann sogar der gerade in diesen Tagen kontrovers diskutierte Ballermann-Hit "Layla". Passend zum Sexismus-Skandälchen, das kurz vor Beginn der Festspiele in den Medien auftauchte, aber am Montag niemanden interessierte.
Unterm Strich zeigt aber auch diese Konstellation wieder einmal: Bayreuth ist unberechenbar. Und immer für eine Story gut. Auch wenn Isolde in diesem Jahrhundert wahrscheinlich nicht mehr sterben wird. Aber wer weiß das schon.