Immer wieder haben sich Zeitgenossen Kafkas und auch spätere Interpreten seiner Werke mit der Religiosität des Schriftstellers auseinandergesetzt. Wie die jüdische Schriftstellerin Margarete Susmann, die bereits 1929 in den "Traumgespinsten", die Kafka in Werken wie der "Verwandlung" webt, das "Hiobsproblem des Leidens und der Schuld" sieht. Oder später der Judaist und Religionswissenschaftler Karl-Erich Grötzinger, der in dem unschuldig schuldig gewordenen Josef K. in Kafkas bekanntestem Werk "Der Prozess" das Gericht als "Weise der Gottesherrschaft" nachgebildet sieht, dessen "himmlische Kanzleien" an die Judenschule erinnern.
Freund vernichtete Werk nicht
Allen voran hat aber sein Freund und "Retter" seines Werks, Max Brod, Kafkas Schriften religiös-allegorisch gedeutet und den "religiösen Einsatz seines ganzen Ichs" gelobt. Brod war es aber auch, der dem ausdrücklichen Wunsch Kafkas, das Werk nach seinem Ableben zu vernichten, bekanntlich nicht entsprochen hat. Nicht zuletzt ihm ist es zu verdanken, dass das Gesamtwerk des durch seine psychologisierende Schreibweise für Generationen spannenden Autors ab 1950 veröffentlicht wurde und heute Welt- literatur ist.
Der älteste Sohn des tschechisch-jüdischen Händlers für Galanteriewaren, Hermann Kafka und dessen deutsch-jüdischer Frau Julie wird am 3. Juli 1883 geboren und wächst mit drei Schwestern in einem Haushalt auf, der vom geschäftlichen Treiben des Vaters geprägt ist. Dieser schert sich wenig um die jüdischen Wurzeln der Familie. Für das Ehepaar Kafka als assimilierte Juden stehen das Erreichen von Wohlstand und das Aufgehen in einer mehr säkular denkenden und handelnden Gesellschaft im Vordergrund.
Auch Franz Kafka spielt in diesem Milieu seine "Rolle", absolviert seinen Schulabschluss am deutschsprachigen Staatsgymnasium in Prag sowie ein Jura-Studium an der Deutschen Universität der Stadt. Später versieht er seine Aufgaben an einer Unfallversicherungsanstalt sowie als Teilhaber an einer Asbestfabrik des Schwagers mit Sorgfalt, aber ohne Eifer. Die Leidenschaft des Heranwachsenden gehört bereits gänzlich der Literatur. Allerdings spürt er sein Anderssein als Jude schon früh, als 1897 tschechische Nationalisten während des sogenannten Dezembersturms jüdische Quartiere Prags ausrauben.
Rüdiger Safranski, der im Hanser-Verlag anlässlich des 100. Todestags eine weitere Biografie Kafkas vorgelegt hat, beschreibt den allgegenwärtigen Antisemitismus im Prag des ausgehenden 19. Jahrhunderts so, dass dieser immer wieder den gemeinsamen Nenner zwischen Deutschstämmigen und Tschechen darstellt, auch wenn sich beide Nationalitäten in der Metropole sonst gerne uneins sind. Jude sein ohne ausdrücklich jüdische Prägung – dieser Widerspruch macht schon dem jungen Kafka zu schaffen, wenn er sich in seinen Aufzeichnungen beispielsweise über seine "Konfirmation" in der Synagoge wundert, zu der sein Vater statt der eigentlich üblichen Bar-Mizwa geladen hatte. Seine halbherzige jüdische Sozialisation beschreibt der Autor später als langweilig: "Ich durchgähnte die vielen Stunden und suchte mich möglichst an den paar kleinen Abwechslungen zu erfreuen. Etwa, wenn die Bundeslade aufgemacht wurde."
In die Synagoge zog es Hermann Kafka zwar zu den hohen jüdischen Feiertagen – doch "von Herzen" scheint diese Hinwendung an das Gebetshaus nicht gekommen zu sein. Im "Brief an den Vater", einer Art Abrechnung mit dem übermächtig wirkenden Erzeuger, der sich nie wirklich für Franz interessiert, geschweige denn dessen literarische Neigung würdigt, geht er hart mit ihm und dessen aufgesetzt wirkendem Judentum ins Gericht: "Ebenso wenig Rettung vor Dir fand ich im Judentum. Aber was war das für ein Judentum, das ich von Dir bekam! Wie man mit diesem Material etwas Besseres tun könnte, als es möglichst schnell loszuwerden, verstand ich nicht; gerade dieses Loswerden schien mir die pietätvollste Handlung zu sein."
Die Faszination seines Sohnes Franz an einer ostjüdischen Schauspieltruppe, die er Ende 1911 kennenlernt, und sein fortan tieferes Interesse an seiner Religion, kann Hermann nicht teilen. Besonders deutlich wird dies, als er den Schauspieler Jizchak Löwy mit zum Essen nach Hause bringt – was der Vater mit "Wer sich mit Hunden ins Bett legt, steht mit Wanzen auf" kommentiert. Ein Szenario, das auch in der kürzlich in der ARD ausgestrahlten Miniserie "Kafka" nachgespielt wird. Franz dagegen genießt die Welt des Jiddischen, die unverblümte Unbekümmertheit und Authentizität vor allem seines Freundes Löwy, dem er in seinem 1917 verfassten Fragment "Vom jüdischen Theater" ein literarisches Denkmal gesetzt hat.
"Was habe ich mit Juden gemeinsam?"
Chassidische Musik und Geschichten beeindrucken den jungen Kafka so sehr, dass er später an Max Brod schreiben sollte, sie seien "das einzige Jüdische, in welchem ich mich gleich und immer zu Hause fühle." Dennoch erwiderte er Brod im Jahr 1916 auf dessen Bezeichnung Kafkas als "jüdischsten aller Dichter": "Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam."
Kafka beginnt sich früh für den Zionismus zu interessieren, beschäftigt sich mit Theodor Herzls Idee vom "Judenstaat" nach dessen Buch von 1896 und beginnt unter dem Eindruck Löwys darüber nachzudenken, nach Palästina auszuwandern – idealerweise gleich mit seiner ersten großen Liebe Felice Bauer, mit der er aber wie mit den anderen Frauen in seinem Leben kein bürgerliches Leben beginnen kann. Immerhin wird ihn der Gedanke einer Auswanderung in das "gelobte Land" Palästina bis zu seinem Tod immer wieder beschäftigen.
Kafka versucht, sich durch das Erlernen der jüdischen Sprache in eine Gemeinschaft einzupflegen
Gegen Ende seines Lebens befasst sich Kafka intensiv mit dem Studium des Hebräischen. Und zwar in einer schöpferischen Phase, in der er den Protagonisten, den Landvermesser K., seines letzten, unvollendet gebliebenen Romans "Das Schloss" offen darüber nachdenken lässt, wie er in der Gesellschaft in dem vom Schloss aus verwalteten Dorf am besten aufgehen könne. Biograf Safranski interpretiert das Streben der Romanfigur wie bereits Max Brod auch in einer religiösen Lesart, die dann wiederum Rückschlüsse auf Franz Kafka zulässt. K. strebt demnach nach einer engen Beziehung zum Schloss, will dessen Regeln und Gebote verinnerlichen und darin Halt finden – wie es Gläubige in ihrer Religion schaffen.
Ebenso wie K. im Buch versucht sich Kafka im wahren Leben durch das Aneignen von Beziehungen im Dorf respektive dem Erlernen der jüdischen Sprache, in eine Gemeinschaft einzupflegen. Noch ein Jahr vor seinem Tod bespricht er im April 1923 mit seinem Freund Hugo Bergmann, Leiter der Universitätsbibliothek in Jerusalem, die Möglichkeiten, nach Palästina auszuwandern.
Kafka sollte diese Reise nicht mehr antreten, von der er sich wohl ein Ende seines Daseins als Mensch der inneren Widersprüche erhofft hat.
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