Rochus Rückel ist erleichtert. Zwar stand der 22-jährige Student schon häufiger auf der Bühne des Passionstheaters in Oberammergau. Doch eine Hauptrolle wie die des Wilhelm Tell hatte er noch nie. "Der erste Auftritt hat gesessen", sagt er nach der Premiere im Passionstheater Oberammergau und lächelt zufrieden.
Die Legende um Wilhelm Tell versetzt Regisseur Christian Stückl nicht in die Alpen – sondern in eine Kriegsszenerie. Auf der Bühne stehen schwarzverbrannte, verwüstete Häuserfronten, die an ausgebombte syrische Dörfer denken lassen. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die martialische Kleidung des Vogtes und seiner Söldner in schwarzen Nazi-Uniformen.
Der Chronist Aegidius Tschudi verdichtete die Geschichte von Wilhelm Tell aus dem Jahr 1307 um 1570 zu einer Sage. Das volkstümliche Schauspiel von Friedrich Schiller wurde im März 1804 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt und erlebte eine bewegte Aufführungsgeschichte: In der NS-Zeit wurde das Stück zunächst als Nationaldrama gefeiert, dann aber 1941 verboten, weil es den Tyrannenmord rechtfertigt.
Wilhelm Tell als Stück über Gewalt und Unterdrückung
Genau hier knüpft Stückl an: Gewalt und Unterdrückung haben das Volk zerrissen zwischen Anpassung, Mitläufertum und Widerstand. In einer der ersten Szenen stürmt Bauer Konrad Baumgarten auf die Bühne. Er hat den Habsburger Burgvogt von Unterwalden erschlagen, weil dieser seine Ehefrau schänden wollte. Nun bittet Konrad mit blutverschmierten Händen den Fischer Ruodi, ihn mit dem Kahn über den See zu bringen. Der Fischer erschrickt und fürchtet sich, er lehnt die Bitte ab mit der Begründung, es ziehe ein heftiger Sturm auf. Wilhelm Tell, der gerade von der Jagd kommt, erbarmt sich und bringt Baumgarten über den See – denn "Wo's Not tut, Fährmann, lässt sich alles wagen".
Durch das offene Dach des Freilufttheaters zieht eine kühle Brise, die zur trostlosen Situation des Volkes passt. Grau und fahl werden sie von einem unerbittlich grausamen Vogt regiert. In den Kantonen formiert sich der Widerstand. Mutige Männer der Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden in martialischen Camouflage-Anzügen und Che-Guevara-Kappen - dazu gehören Werner Stauffacher (Frederik Mayet), Walther Fürst (Anton Preisinger) und Arnold vom Melchtal (Cengiz Görür) - wollen einen Plan aushecken gegen die Vögte. Bei einem nächtlichen Treffen ringen sie mühsam um eine Lösung – und vereinigen sich schließlich zum Rüthli-Schwur.
Rochus Rückel spielt Wilhelm Tell
Wilhelm Tell macht da nicht mit. In Stückls Inszenierung ist er alles andere als ein besessener oder besonders mutiger Widerstandskämpfer:"Er gehört nicht zu denjenigen, die an vorderster Front stehen und Freiheit schreien", schildert Rochus Rückel seine Rolle. Tell will keinen Krieg, sondern wird vielmehr in eine Situation hineingezwungen, aus der er nicht mehr herauskommt.
Der 22-jährige Laienschauspieler Rückel verkörpert sehr glaubwürdig den jungen Wilhelm Tell, der am liebsten in Ruhe gelassen werden möchte. "Ein jeder lebe still bei sich daheim", sagt Tell und fordert die Widerständigen, die zu ihm gekommen sind, dazu auf, zu tun, was zu tun sei - "doch lasst mich aus eurem Rat".
Doch das totalitäre System ist unerbittlich. Landvogt Gessler hat in Altdorf zur "Prüfung des Gehorsams" einen Hut auf eine Lanze stecken lassen. Wer den Hut nicht grüßt, soll ermordet werden. Als Wilhelm Tell eines Tages mit seinem Sohn - den talentierten Jungen Johannes Maderspacher - achtlos an dem Hut vorbeiläuft, wird er von den Söldnern verhaftet.
Apfel auf dem Kopf des Kindes
Der Landvogt – wunderbar gespielt von Andreas Richter, der geradewegs aus Klaus Kinskis "Fitzcarraldo" entlaufen zu sein scheint – tritt auf und zwingt Tell, um sein Leben zu spielen. Er soll einen Apfel vom Kopf des eigenen Kindes schießen.
Wilhelm Tell will sich herauswinden und bittet um Gnade. Doch dann entnimmt er seinem Köcher zwei Pfeile und trifft den Apfel. Als Tell verrät, dass der zweiten Pfeil bei Misslingen für den Vogt bestimmt war, wird er festgenommen.
Aus dem passiven Tell wird nun ein wütender und hasserfüllter junger Mann. Tell entkommt seinen Häschern, lauert Gessler in der Hohlen Gasse bei Küssnacht auf – und tötet den Vogt mit seinem Pfeil.
Versöhnung mit einem Mörder?
Doch damit endet das Stück nicht: Als Tell nach Hause zurückkehrt, trifft er dort auf einen Mönch. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Parricida, einen Adeligen, der seinen habsburgischen Onkel ermordet hat. Tell bäumt sich zunächst auf und weist auf den großen Unterschied der beiden Morde hin: "Darfst du der Ehrsucht blutge Schuld vermengen, mit der gerechten Notwehr eines Vaters?". Nach einigem Ringen beschließt er, dem Mörder zu helfen. Denn: "Was Ihr auch Gräßliches verübt – Ihr seid ein Mensch".
Es ist die große Frage um den Tyrannenmord, die hier anklingt – und mit der Christian Stückl das Publikum in den kühlen Abend entlässt. Der Regisseur hat viele Textpassagen des Dramas gestrichen und damit eine moderne Inszenierung geschaffen, die sich mit der Frage beschäftigt, was ein "Volk der Hirten gegen ein Heer" anrichten kann. Was bleibt, ist ein theatralischer Appell an die Besucher, die politische Gegenwart zu betrachten und sich nicht aus der Affäre zu stehlen, wenn es darum geht, für Schwache und Bedrängte einzustehen.
Laiendarsteller bei den Passionsspielen 2020
Rochus Rückel spielt "Wilhelm Tell" an jeweils zwei Wochenenden im Juli und im August. Dann kehrt der junge Laiendarsteller wieder an die Universität zurück, wo er Luft- und Raumfahrttechnik studiert. Bei den Passionsspielen im Jahr 2020, die nur alle zehn Jahre aufgeführt werden, ist er sicherlich dabei. In welcher Rolle, wird sich erst noch herausstellen.
Am 20. Oktober wird Spielleiter Christian Stückl die Liste der Schauspieler für die Passion 2020 vorstellen. Nach einem Gottesdienst werden die Namen an eine Tafel geschrieben. Dafür kommt der ganze Ort zusammen. Bis dahin bleibt die Besetzung geheim.