Nicolas Dierks ist promovierter Philosoph und Dozent an der Leuphana Universität in Lüneburg. Er steht an der Schnittstelle von Wissenschaftstheorie und praktischer Unternehmensberatung. Im Podcast Ethik Digital spricht er über Ethik in der Wirtschaft.
Sie sind viel unterwegs in Sachen Wirtschaftsethik: Ist moralisches Denken in der Wirtschaft überhaupt noch vorhanden?
Nicolas Dierks: Natürlich bin ich nicht so naiv zu glauben, dass wir es ohne Regulierungen geht. Gerade in Märkten mit einer starken Monopolisierung braucht es Regulierung. Das ist völlig klar. Wenn ich allerdings über Moral in der Wirtschaft spreche, dann geht es mir um die Position, von der aus ich auf die Wirtschaft zugehe. Denn wenn ich Menschen in der Wirtschaft vorab unterstelle, sie seien unmoralisch, dann kommt selten produktive Kommunikation zustande.
Gerade im Mittelstand gibt es viele anständige Menschen, für die aber das Thema digitale Ethik schwer zugänglich ist. Dort vermeide ich Begriffe wie Ethik oder Moral und spreche lieber von Verantwortung oder Vertrauen. Damit können die meisten etwas anfangen. Und dann kann ich aufzeigen: Moralische Normen sind stets im Spiel, wenn Menschen kooperieren.
Denn überall, wo Menschen zusammenarbeiten, braucht es respektvollen Umgang. Gute Beziehungen zu den Mitarbeitenden, unter Führungskräften, zu den Führungskräften, zu den Kunden, zu Geschäftspartnern sind wichtig. Es hat sofort auch negative ökonomische Effekte, wenn in Beziehungen Misstrauen herrscht. Deshalb möchte ich die Dichotomie zwischen Ökonomie und Moralität aufbrechen. Es geht darum, die Extreme zu vermeiden.
Lässt sich Moral in großen Unternehmen noch umsetzen?
Die Größe scheint eine Rolle zu spielen. Also in dem Moment, wo Menschen sich nicht mehr begegnen, wo sie nicht mehr direkt miteinander zu tun haben, ändert das etwas in der Unternehmenskultur. Da braucht es schon eine starke Werteorientierung, gerade auch von der Führungsebene, um diese Kultur lebendig zu halten.
Und warum scheuen sie sich dann, an der Stelle von Ethik zu sprechen?
Grundsätzlich habe ich überhaupt kein Problem, das Wort "Ethik" in den Mund zu nehmen. Ich habe nur die Erfahrung gemacht, dass Wirtschaftsvertreter das Thema dann häufig in eine abgelegene Schublade sortieren, irgendwo an einen Randbereich mit ziemlich niedriger Priorität.
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Bei der Personalsuche wird schon KI eingesetzt, die auch Menschen diskriminieren oder die Privatsphäre verletzen könnte. Wie gehen Unternehmen damit um?
Im deutschsprachigen Raum gibt es sowohl Unternehmen, die nur eine Werteliste ins Internet stellen, aber auch andere, die wirklich innere Prozesse transformieren oder Gremien einrichten, die Weisungskompetenz haben. Das finde ich schon gut. Aber beim Thema Corporate Digital Responsibility haben die meisten noch sehr viel Arbeit vor sich. Im Moment habe ich den Eindruck, dass viele auch so ein bisschen abwarten, was der AI Act der EU dann wohl bringt.
Eine bessere Strategie wäre, sich vorab schon mal darauf einzustellen. Ich glaube, es gibt auch ökonomische Gründe, warum Unternehmen gut beraten sind, sich diesem Thema frühzeitig und ernsthaft zu widmen.
Wie erleben Sie die Diskussionen in Unternehmen um Werte wie Mitgefühl, Respekt im digitalen Raum? Reagieren Unternehmen immer erst, wenn es eine Regulierung gibt?
Ich habe den Eindruck, dass es schon Diskussionen gibt, etwa zwischen Geschäftsführungen und Betriebsräten. Zum Beispiel, wenn es darum geht, die Mitarbeitenden zu kontrollieren. Aus ethischer Perspektive würde man fragen: Wie werden die Mitarbeitenden behandelt? Werden sie als eigenverantwortliche moralische Wesen betrachtet, denen man auch etwas zutrauen kann? Wie können wir die Mitarbeitenden dazu befähigen, auch konstruktive Kritik und Ideen einzubringen?
Die moralphilosophische Frage ist: Aus welchen Gründen sollen sich Akteure moralisch verhalten? Wir können das durch Strafen erzwingen. Aber wir wissen aus der Pädagogik, dass wir damit Menschen nicht zu moralischen Akteuren machen. Vielmehr müssen wir ihnen verständlich machen, warum etwas gut ist. Dafür brauchen wir einen Diskurs. Und ich bin schon Idealist, ich glaube, dass es auf historisch längere Zeiträume gesehen schon moralische Fortschritte gibt. Und diese schlagen sich teils in rechtlichen Regulierungen nieder, aber auch in steigendem gesellschaftlichen Moralbewusstsein – das bisweilen ungerechte Gesetze korrigiert.
Sind wir dem Tempo der Veränderung gewachsen?
Da bin ich strategischer Optimist. Denn was würde es bedeuten, wenn wir jetzt einfach sagen "ja stimmt, wir sind überfordert, wir kommen nicht mit, und es ist alles zu Ende"? Wir haben doch keine andere sinnvolle Möglichkeit, als zu sagen: Wir überlassen das Feld nicht der technologischen Entwicklung, die sich verselbstständigt, oder ökonomischen Interessen oder Machtinteressen.
Wir haben das Recht und die Aufgabe, unsere Welt zu gestalten. Das ist etwas, was uns als Menschen auszeichnet, dass wir miteinander in einem in einem Austausch darüber sind, wie es für uns gut ist.
Sie haben sich mit Wissenschaftstheorie beschäftigt. Muss sich auch der Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft verbessern in Bezug auf digitale Ethik?
Derzeit funktioniert der Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft gut. Die Wirtschaft adaptiert im technischen Bereich schnell neue Entwicklungen, auch funktionieren Forschungskooperationen ganz gut.
Aber es gibt auch Themen, wo ich mir wünschen würde, dass Wirtschaft und Wissenschaft sehr viel enger zusammenarbeiten. Also etwa die Auswirkung von Algorithmen auf die politische Polarisierung. Oder die digitale Ökonomie der Aufmerksamkeit. Wir haben als Gesellschaft begrenzte Ressourcen an Aufmerksamkeit, die wir sorgsam verteilen müssen, um wichtige gesellschaftliche Herausforderungen anzugehen. Das droht der digitale Wandel aktuell zu beeinträchtigen.
Wie bewerten Sie die aktuelle Diskussion um eine Superintelligenz durch KI-Systeme?
Ich halte die erst mal für sehr unwahrscheinlich. Dafür sind noch einige technologische Durchbrüche nötig, das kann noch etliche Jahrzehnte dauern. Aber trotzdem müssen wir Vorkehrungen treffen, auf ganz pragmatischer Ebene.
Wir benötigen dafür bestimmte Sicherheits- und Kontrollmechanismen. Aber aktuell stehen wir eigentlich vor anderen Herausforderungen.
Hinter der KI stehen Unternehmen, die damit Gewinne erzielen möchten und deswegen die Algorithmen in bestimmter Art und Weise konzipieren. Sollten wir uns unabhängiger machen von von diesen kapitalistischen Systemen? Eine eigene Plattform schaffen?
Das sollten wir in Europa auf jeden Fall machen. Das wird ja auch unter dem Stichwort "digitale Souveränität" vorangetrieben. Wir brauchen ein vertretbares Sprachmodell und einen offenen Index, also die Grundstruktur, auf die zum Beispiel Suchmaschinen zugreifen. Da gibt es ja zum Beispiel die Open Search Foundation, die sich dafür einsetzt, dass so ein Index gebaut wird. Insofern, eine gewisse Unabhängigkeit ist Voraussetzung – ebenso wie eine Regulierung.
Was unlautere Geschäftspraktiken angeht, muss man derzeit den Einzelfall kritisch betrachten. Was ist bei einer Webseite oder einem Shop ein legitimes Nudging? Wann werden Freiheit und Würde geachtet und wann werden wir manipuliert? Das ist ein weites Feld und da gibt es eine große Grauzone. Wir sollte "die Wirtschaft" differenziert betrachten. Was die großen Plattformen angeht, da brauchen wir dringend Regulierung und Transparenzpflichten – und vielleicht eine Zulassungsbehörde ähnlich wie bei Medikamenten.
Da ist der europäische Digital Services Act ein wichtiger Schritt. Aber wir brauchen auch die Entwicklung des moralischen Bewusstseins von Menschen in der Wirtschaft, vor allem bei den Entscheidern.
Tagung "Orientierung in der digitalen Welt. Wohin führen uns Google, TikTok & Co?"
Ein freier, unvoreingenommener und vielfältiger Zugang zu Informationen ist wichtiger denn je. Doch wer entscheidet, welche Informationen relevant sind und uns angezeigt werden? Welchen Einfluss haben die mächtigen Digitalplattformen auf die Informationsvielfalt in unserer Gesellschaft? Welchen Preis zahlen wir für Dienste von Google & Co? Was geschieht, wenn wir eine Suche im Netz starten – technisch und mit unseren Daten? Wir schauen genauer hin und beleuchten gesellschaftliche, informationspolitische und ethische Aspekte.
Referierende aus Forschung und Zivilgesellschaft thematisieren in Vorträgen, Diskussionen und Workshops, welche Alternativen es zu den großen Anbietern gibt und wie eine gemeinwohlorientierte Suche entstehen kann. Wie können wir uns selbstbestimmt und sicher im World Wide Web bewegen? Das wollen wir nicht zuletzt praktisch üben und so unsere digitalen Kompetenzen für den Alltag im Netz aufbauen.
Die Tagung wird in Kooperation mit der Open Search Foundation durchgeführt, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für eine unabhängige Internetsuche einsetzt und dafür einen offenen Suchindex entwickelt. Ein wichtiger Grundsatz: Die Internetsuche soll den Menschen dienen, nicht umgekehrt!
Wir suchen Orientierung in der digitalen Welt und laden Sie herzlich dazu in die Evangelische Akademie Tutzing ein.
Dr. Hendrik Meyer-Magister, Evangelische Akademie Tutzing
Christine Plote, Open Search Foundation, Starnberg
Stefan Voigt, Open Search Foundation, Starnberg
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