Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eskaliert derzeit. Schon seit 2014, seit der Revolution auf dem Maidan, unterstützt die russische Regierung Separatisten im Osten des Landes. In einem drastischen Schritt hatte der russische Präsident Putin deren Gebiete kürzlich als unabhängig anerkannt. Gleichzeitig hat er der Ukraine abgesprochen, ein souveräner Nationalstaat zu sein. Beobachter rechneten seit Tagen mit einem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine. Dieser hat inzwischen begonnen.

Martin Tontsch ist Pfarrer und Referent für konstruktive Konfliktbearbeitung. Er arbeitet für die landeskirchliche Arbeitsstelle kokon für konstruktive Konfliktbearbeitung. Im Interview erklärt er, warum er den Wunsch der Ukraine nach einer NATO-Mitgliedschaft zwar nachvollziehen kann, aber sehr kritisch sieht, was es aus seiner Sicht braucht, um die Logik der Eskalation zu durchbrechen  – und was langfristig zu einem nachhaltigen Frieden führen könnte. (Anmerkung: Das Gespräch fand vor dem Angriff Russlands auf die gesamte Ukraine statt)

Viele Beobachter gehen davon aus, dass die Eskalation des Krieges in der Ukraine jetzt nicht mehr zu stoppen ist. Wie sehen Sie das?

Martin Tontsch: Eskalation ist ein ganz wichtiger Begriff für einen differenzierten Umgang mit Konflikten. Das Modell der neun Eskalationsstufen nach Friedrich Glasl macht deutlich: Es kann immer schlimmer werden. Die Eskalation ist erst dann zu Ende, wenn alle tot sind. Es ist ganz wichtig, sich klar zu machen: Auch in Situationen, in denen geschossen wird, in denen Menschen sterben, kann die Situation noch schlimmer werden. Insofern geht es um die Frage, wie weit man es eskalieren lässt und was es braucht, um mittelfristig zu einer Deeskalation und langfristig zu einem nachhaltigen Frieden zu kommen.

"Wir müssen weg von der Frage, ob man für oder gegen Russland ist."

Und was braucht es dafür?

Tontsch: Wir müssen weg von der Frage, ob man für oder gegen Russland ist. Ein solch polarisierendes Denken ist der Anfang von Eskalation. In Russland herrscht eine korrupte Autokratie, in der Menschen, die ihre Meinung frei sagen, um ihr Leben fürchten müssen. Für so ein politisches System bin ich nicht und ich glaube kaum jemand aus der Friedensszene. Aber Russland ist das größte Land der Erde und direkter Nachbar Europas. Und es ist ein Land mit einer besonderen kulturellen Tradition, die wir nicht einfach ändern können.

Was meinen Sie damit?

Tontsch: Wenn wir zu einem nachhaltigen Frieden mit Russland kommen wollen, dann müssen wir sehen, wie wir unsere Interessen und Werte zusammenbringen mit denen dieses Nachbarlandes. Und dazu helfen auch Perspektivwechsel.

"Wenn ich Russe wäre, dann sähe ich ungern Panzer der NATO an den Grenzen meines Landes stehen."

Inwiefern?

Tontsch: Wenn ich Russe wäre, dann sähe ich ungern Panzer der NATO an den Grenzen meines Landes stehen. Und ich hätte nach dem NATO-Beschluss von 2008 Sorge, dass dies der Fall wäre, sobald sich die Lage dauerhaft entspannt. Denn dann würde ja das Aufnahmehindernis wegfallen, dass die Ukraine keinen Sicherheitsbeitrag zur NATO leistet. Das ist eine fatale Anreizstruktur.

Einen NATO-Beitritt der Ukraine hielten Sie also für falsch?

Tontsch: Die Ukraine hat kurzfristig keine Chance, in die NATO aufgenommen zu werden, es erhöht also auch nicht ihre Sicherheit. Doch dass die langfristige Perspektive im Raum steht, verschließt den Weg zu konstruktiven Lösungen. Für dauerhaften Frieden mit Russland müsste man meines Erachtens eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine langfristig ausschließen.

Martin Tontsch
Martin Tontsch ist seit 2018 Referent der Arbeitsstelle kokon.

"Es müssen Lösungen gefunden werden, die Sicherheit der Ukraine auf anderer Weise zu gewährleisten, zum Beispiel mit der OSZE."

Ist es nicht nachvollziehbar, dass die Ukraine eine NATO-Mitgliedschaft anstrebt, um gegen die recht unverhohlenen Drohungen des russischen Präsidenten besser geschützt zu sein?

Tontsch: Für nachvollziehbar halte ich es, aber das ist ja gerade die Dynamik der Eskalation. Aus dieser Logik muss man raus. Es müssen Lösungen gefunden werden, die Sicherheit der Ukraine auf anderer Weise zu gewährleisten, zum Beispiel mit der OSZE oder im Rahmen einer anderen, noch zu findenden Sicherheitsarchitektur. Wo so etwas politisch gewollt war, da hat sich Diplomatie schon als sehr einfallsreich erwiesen.

Putin hat die Ukraine in seiner Rede am Montag als eine Art künstliches historisches Gebilde dargestellt. Denken Sie, dass es auf der Grundlage noch möglich ist, überhaupt über eine souveräne Ukraine zu sprechen?

Tontsch: Solche Großmachtansprüche Russlands müssen zurückgewiesen werden, auch mit klaren Sanktionsdrohungen. Aber ich kann mir vorstellen, dass es auch viele Russinnen und Russen gibt, die das anders sehen und ihre Nachbarn in ihrem eigenen Land leben lassen wollen, solange dieses auch langfristig nicht Teil eines Militärbündnisses unter amerikanischer Vorherrschaft wird. Sobald diese Option auf dem Tisch liegt, macht man es Putin deutlich schwerer, sich im eigenen Land als Verteidiger zu inszenieren.

Wie beurteilen Sie, dass das deutsch-russische Pipeline-Projekt Nordstream 2 ausgesetzt wurde?

Tontsch: Das leuchtet mir voll und ganz ein. Wirtschaftssanktionen sind das richtige Mittel, um mit einer Verletzung territorialer Grenzen eines souveränen Staates umzugehen.

"Die Zivilgesellschaft wird dafür sorgen, dass es eine Ära nach Putin gibt."

Wie realistisch ist es aus Ihrer Sicht denn, dass es doch noch zu einer Deeskalation kommt?

Tontsch: Die momentanen Nachrichten aus der Ukraine machen mir große Sorgen, auch wenn ich glaube, dass es auf beiden Seiten viele Menschen gibt, die sich Frieden wünschen.  Große Hoffnung aber habe ich, dass es auch in Russland einen mittel- bis langfristigen Transformationsprozess gibt. Junge Menschen denken weniger in Kategorien von Nationalstaaten und alten Feindbildern, sondern mehr in denen von Menschenrechten, Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung. Genau vor diesem Wandel hat Putin Angst, aber er wird sich nicht aufhalten lassen. Die Zivilgesellschaft wird dafür sorgen, dass es eine Ära nach Putin gibt.

"Ökumenische Initiativen wie die Dekade zur Überwindung von Gewalt haben wichtige Impulse gesetzt, die einen Beitrag leisten zu einem langfristigen Transformationsprozess hin zu weniger Gewalt und mehr Gerechtigkeit."

Welche Rolle könnten die Kirchen bei der Unterstützung einer solchen Zivilgesellschaft spielen?

Tontsch: Die ökumenischen Beziehungen unserer Kirchen sind da ein großer Schatz und haben auch in der Vergangenheit segensreich gewirkt. Internationale Begegnung, Austausch und Versöhnungsarbeit fördern Verständigung und stellen Vorurteile und Nationalismus in Frage. Ökumenische Initiativen wie die Dekade zur Überwindung von Gewalt haben wichtige Impulse gesetzt, die einen Beitrag leisten zu einem langfristigen Transformationsprozess hin zu weniger Gewalt und mehr Gerechtigkeit.

Und auch wenn man das angesichts des Leidens von vielen Menschen in der Ostukraine und der großen Angst vieler anderer kaum glauben mag: Es gibt einen Transformationsprozess hin zu weniger Opfern gewaltsamer Konflikte. In den Tschetschenienkriegen 1994 bis 2009 etwa waren zehn Mal so viele zu beklagen. Die Welt schaut genauer hin und sieht Gewalt immer weniger als einen Wettbewerb, den es zu gewinnen, sondern immer mehr als Problem, das es zu lösen gilt. Auch wenn das immer wieder misslingt.