Oliver Hidalgo ist Lehrstuhlinhaber an der Universität Passau und spricht zu diesem Thema bei einer Ethiktagung der evangelischen bayerischen Landeskirche an diesem Freitag (15. November) in München. Wir haben ihn angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen vorab befragt.

Herr Hidalgo, es ist viel von der Polarisierung der Gesellschaft die Rede. Ist diese wirklich so schlimm ausgeprägt?

Oliver Hidalgo: Polarisierung ist für die Demokratie erstmal völlig normal. Demokratie besteht aus Pluralität, aus alternativen Möglichkeiten. Es gibt nicht die eine Position, sondern man kann die Dinge vielfältig sehen und entscheiden. Die Demokratie bezweifelt nicht, dass es Tatsachen gibt.

Aber sie selbst findet dort statt, wo es Diskussionen gibt, wo man argumentieren darf, wo nicht von vornherein feststeht, was richtig und was falsch ist. Dass es dort zu Streit und gegensätzlichen Programmen kommt, zeichnet Demokratie aus.

Polarisierung heißt, dass Positionen nicht vereinbar sind. Wann wird das gefährlich?

 Die demokratische Idee ist: Obwohl wir unterschiedlicher Meinung sind, haben wir eine Methode, um trotzdem zu Kompromissen und Entscheidungen zu kommen. Ist das nicht mehr gegeben, findet eine destruktive Polarisierung statt. Wenn ich nicht sage: Das ist mein politischer Gegner, und er vertritt eine andere legitime Meinung, sondern sage: Der befindet sich außerhalb der Demokratie, ich akzeptiere ihn nicht mit seinen Vorstellungen. Das ist eine destruktive Polarisierung.

Alles steht und fällt mit der Anerkennung des anderen als Konfliktpartner – und dass die eigene Position nicht völlig ideologisiert ist?

Wahrheit und Politik stehen in einem Spannungsverhältnis. Im Politischen kann die Wahrheit nicht absolute Autorität entfalten, es muss ein offener Bereich sein. In den USA haben die zwei Gruppen eine konstruktive Kooperation praktisch eingestellt. Sie konnten sich nicht mal angesichts von Trumps Rechtsbrüchen über die Parteigrenzen hinweg darauf einigen, dass hier die Institutionen greifen müssen.

Diese defekte Demokratie läuft Gefahr, ihrer Gewaltenteilung beraubt zu werden. Es gibt keinen Konsens mehr über die Modalitäten, wie man Konflikte austrägt. Dabei geht es nicht unbedingt um einen Wertekonsens, aber um ein Rahmenwerk von Regeln.

Gibt es in Deutschland diesen Konsens noch – und eine Mitte?

Die Mitte gibt es, aber sie wird zerrieben. Ist die Polarisierung weit vorangeschritten, können sich nur die Extremen durchsetzen. Dann muss ich vor allem die Radikalen in meiner Partei zufriedenstellen. Gemäßigte Positionen sind dann fast politischer Selbstmord. Schon in der Corona-Zeit war es schwierig, eine vermittelnde Position einzunehmen, ohne gleich einem Lager zugeordnet zu werden. So ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem politischen Gegner ist genau die Situation, in der politische Radikalisierung gedeiht.

Warum meinen Sie, unsere Gesellschaft sei "dauernd aufgeregt"?

Wir empfinden uns in einer sogenannten Polikrise. Obwohl vieles gar nicht so schlecht ist, geht scheinbar alles den Bach runter. Die fetten Jahre sind vorbei, Wachstum ist nicht mehr die Antwort auf alles, die demografische Entwicklung, die ökologischen Probleme – es ist alles ungelöst.

Zeigt nicht das aktuelle Prozedere um die Ampelregierung, dass unsere Institutionen durchaus funktionieren: weil es ein geregeltes Verfahren gibt, um eine stabile Regierung zu schaffen?

In Deutschland kann man nicht von einer Institutionenkrise sprechen. Aber was das Ende der Ampel zeigt, ist jene fehlende Problemlösungs- und Konsensfähigkeit. Diese neue Koalition hat es nicht geschafft, dass sich die mahnenden Stimmen auf allen Seiten zu einem konstruktiven Kompromiss geeinigt hätten. Man kann sich nicht richtig vorstellen, welche Gruppierungen die Kraft besitzen, um diese Polikrise beherrschbar zu machen.

Gleichzeitig orientiert sich Politik stärker denn je an wissenschaftlichen Erkenntnissen. Welche Fakten zählen in der Politik?

Man muss unterscheiden, was wissenschaftlich gesichert ist und wo politische Spielräume sind. Beim Klimawandel ist die Frage, wie der Mensch dazu beiträgt und welche Maßnahmen angebracht sind, kompliziert zu beantworten. Bei Corona war das ähnlich.

Haben wir verlernt, demokratisch zu streiten?

Bei früheren politischen Auseinandersetzungen traut man manchmal seinen Ohren nicht, wie es da gekracht hat – und am Ende haben sie sich oftmals doch geeinigt. Heute herrschen Empfindlichkeiten vor, man will niemanden brüskieren. Doch politische Entscheidungen sind manchmal unbequem und mit Gegenwind verbunden. Konstruktiver Streit soll auch dazu führen, dass jemand versucht, etwas gegen Widerstände durchzubringen.

Doch statt das argumentativ auszutragen, versucht man lieber, den anderen schlecht aussehen zu lassen. Es wird auch schwierig, wenn identitätspolitische Gegensätze alles überlagern: wenn ein Vorschlag nur deswegen nicht angenommen wird, weil er von der anderen Seite kommt. Das ist kontraproduktiv, wenn es nicht mehr um Lösungsfindung, sondern nur noch um Gruppenzugehörigkeit geht.

Ist der Populismus die größte Gefahr?

Dabei hat man Angst vor einer Tyrannei der Mehrheit, die von Demagogen verführt worden ist. Das gibt es schon immer und ist nur die eine Schwachstelle der Demokratie. Dagegen bezeichnet das Stichwort der Postdemokratie die geradezu spiegelbildliche Angst: dass die Politik ohnmächtig geworden ist – aufgrund von strukturellen Problemen, etwa weil sie transnationalen Unternehmen nichts entgegensetzen kann.

In der Politik kommt es darauf an, Mehrheiten zu schmieden und Projekte durch Deals durchzubringen. Politik hat faktisch viel Einfluss, aber diese Wahrnehmung von Ohnmacht ist zum Teil für den Aufstieg des Populismus verantwortlich.

Was meinen Sie mit der zugleich "harmoniesüchtigen" Gesellschaft?

Politiker, wie auch viele Bürger heute, haben Angst vor dem schlechten Image: dass sie selbst schlecht dastehen, wenn sie Streit haben wollen. Wir sollten lernen, wieder weniger stark in Gruppenzugehörigkeiten zu denken, sondern für unsere eigene Meinung einzustehen.

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