Der Staat Israel feiert am 14. Mai 2023 seinen 75. Geburtstag. Wozu beglückwünschen Sie Israel und die Menschen, die den Staat aufgebaut haben?

Michael Wolffsohn: Zu 75 sehr erfolgreichen Jahren. Vor allem die letzten drei Jahrzehnte waren besonders erfolgreich, weil man erkennen konnte, was für ein ungeheures Potenzial in dieser Bevölkerung steckt.

"Ein jüdischer Staat wäre inhaltlich das Gegenstück zur islamischen Republik Iran."

Wie wichtig ist der Staat Israel für Juden auf der ganzen Welt?

Israel ist kein jüdischer Staat, was oft in Deutschland falsch formuliert wird. Es ist ein Staat der Juden. Das ist ein ganz entscheidender Unterschied und keine Wortspielerei. Denn ein jüdischer Staat wäre inhaltlich das Gegenstück zur islamischen Republik Iran, wo also eben nur der Islam Staatsreligion ist, und das in einer sehr orthodoxen, um nicht zu sagen: fundamentalistischen Weise. Der "Staat der Juden" heißt, dass selbstverständlich auch nicht-religiöse Juden ihren Platz in Israel haben. Die Auseinandersetzung, die jetzt in Israel stattfindet, geht nicht zuletzt über diese Frage: Soll Israel ein "jüdischer Staat" werden, was die Orthodoxen möchten, oder soll es ein "Staat der Juden" bleiben, also eine liberale, weltoffene Demokratie.

In Ihrem neuen Buch "Eine andere jüdische Weltgeschichte" schreiben Sie, Israel sei der einzige Staat, wo Juden hingehen können, wenn sie verfolgt werden.

Richtig. Da müssen wir 3000 Jahre jüdische Geschichte in aller Kürze betrachten. Vor allem die letzten 2000 Jahre in der christlichen und in der spät- und nachchristlichen Welt auf der einen Seite und der islamischen Welt auf der anderen Seite. Die Juden sind in den letzten 2000 Jahren wie eine Verfügungsmasse von A nach B hin und her geschoben worden. Sie waren abhängig von der Gnade anderer, die alles andere als judenfreundlich gewesen sind und die Juden immer nur so lange geduldet haben, wie man Juden brauchte: als Modernisierer, als diejenigen, die neue Entwicklungen auf den Weg bringen konnten. Und wenn diese Aufgabe vollendet war, dann schmiss man sie im besten Falle raus, oder man hat sie schlicht und ergreifend liquidiert. Daher war die Gründung des Staats der Juden, also Israel, die Antwort auf 2000 beziehungsweise 3000 Jahre jüdische Geschichte. Und wenn gesagt wird, ja, Israels Existenz ist nicht berechtigt, dann muss man fragen, wo ist den jüdische Existenz berechtigt, wenn nicht dort?

"Die innere Spaltung ist das Leitmotiv der 3000-jährigen jüdischen Geschichte."

Zurzeit geht in Israel ein Riss durch die Gesellschaft zwischen den Unterstützern der Regierung Netanjahu und ihren Gegnern. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die innerjüdischen Konflikte und innerjüdischen Kämpfe typisch für die jüdische Geschichte sind.

Die innere Spaltung ist das Leitmotiv der 3000-jährigen jüdischen Geschichte, und das ist zugleich Fluch wie Segen. Das ist einerseits eine ständige innere Herausforderung, die Überlebensmechanismen und den Verstand so zu aktivieren, dass man mit den schwierigsten Situationen fertig wird; zum anderen natürlich auch mit den schwierigsten Situationen von außen. Das ist der Segen. Der Fluch ist, dass es eben oft auch zum inneren Zerreißen geführt hat. Wenn Sie sich das Alte Testament durchlesen, gab es ja meistens zwei Königreiche, und in der Epoche der Diaspora gab es in den jüdischen Gemeinden selbst heftigste Auseinandersetzungen. Das findet eben jetzt auch in Israel statt – Fluch und Segen.

Wie hat sich das deutsch-israelische Verhältnis in den 75 Jahren entwickelt?

Es hat sich völlig verändert. Am Anfang war, historische Ironie oder Tragik, die Bundesrepublik Deutschland der Staat, der Israel am Tropf hielt. Nicht zuletzt durch die Wiedergutmachungszahlungen, die Entschädigungen und später auch Waffenlieferungen. Das war Israels wirtschaftliche und damit auch politische Lebensrettung. Die Abhängigkeit Israels von Deutschland war enorm. Das hat sich vollkommen verändert, aber noch nicht in der Wahrnehmung der bundesdeutschen Bevölkerung. Ich nenne einige Beispiele: die unglaubliche Innovation im Bereich der Hochtechnologie, der modernen Technik, der modernen Medizin, nicht zuletzt auch der modernen Militärtechnologie. Deutschland kauft von Israel Drohnen und Raketenabwehrsysteme.

"Seit den frühen 80er-Jahren zählt Israel in den Augen der bundesdeutschen Öffentlichkeit zu den unbeliebtesten Staaten dieser Welt."

Wie sind die Israelis gegenüber Deutschland eingestellt, und was halten die Deutschen von den Israelis?

Die Umfragen zeigen seit Jahrzehnten, dass die Bundesrepublik Deutschland in der israelischen Bevölkerung höchst beliebt ist. Und wir wissen ebenfalls aus Umfragen und erkennen das ja auch an der Politik, die zähneknirschend als pro-Israel betrieben wird: Seit den frühen 80er-Jahren zählt Israel in den Augen der bundesdeutschen Öffentlichkeit zu den unbeliebtesten Staaten dieser Welt. Man kann über Israels Politik das eine oder andere sagen, aber dass Israels Politik mit zu den schlimmsten Politiken der Welt gehören sollte, das ist einfach absurd.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden