Guten Abend, liebe Leserinnen und Leser. Wir sind angekommen!  Nach vier Adventswochen angekommen an Heiligabend. 

Den ganzen Advent über bin ich den Akteuren der Weihnachtsgeschichte begegnet. Im Kurpark von Bad Kissingen. Da bin ich seit zwei Monaten Pfarrerin. Als Lichtinstallation leuchten die lebensgroßen Figuren in hellem Weiß. Schafe grasen friedlich, Hirten stehen oder knien in der Landschaft, Maria und Josef mit dem Kind, natürlich auch Ochs und Esel, die Weisen aus dem Morgenland mit ihren Kamelen.  Und etwas versteckt, hoch oben in einem Baum, schwebt der Verkündigungsengel. Jedes Mal wenn ich an ihm vorbeigehe und hinaufblicke, habe ich das Gefühl, als sei ich Teil der Szenerie. Eine Hirtin unter den anderen auf den Feldern von Bethlehem, geblendet vom Licht und der Engel flüstert auch mir zu: 

"Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen." (Lk 2, 10-12)

Uralte Worte sind das, die es durch die Jahrtausende hindurch geschafft haben, bis zu uns. "Fürchtet euch nicht!" Die vielleicht wichtigste Ansage in diesem zweiten Coronawinter. Denn mit Furcht ist ja nichts gewonnen. Klar, sie kann ein Schutzmechanismus sein. Sie kann uns aber auch dermaßen gefangen nehmen, dass sie uns lähmt und blockiert.

Die Furcht in uns

Im letzten Jahr, als es noch keine Impfung gab, bin ich eine Zeit lang nur noch einmal die Woche - morgens um 7.00 Uhr - zum Einkaufen gegangen. Ja, und ich war nicht nur mit einem Mundschutz, sondern auch mit Einweg-Handschuhen und Desinfektionsmittel unterwegs. Ich hatte einfach Angst. Um mich, um Familienmitglieder und viele andere. Die Pandemie hatte mich voll im Griff. 

Heute kann ich sagen, sie hat mich Gott sei Dank nicht nur das Fürchten gelehrt, sondern auch das Staunen darüber, was menschenmöglich ist.  Überall auf der Welt haben Forschende an einem Impfstoff gearbeitet, sich darüber ausgetauscht und die Formel gefunden. Mit Schutzausrüstung und sicher mit einem großen Respekt vor der Arbeit. Es stand ja nicht von vornherein fest, dass es gelingen würde. Ich bin ihnen jedenfalls zutiefst dankbar, dass sie sich furchtlos, mit klarem Verstand, mit Fachkenntnis, Wissensdrang und Forschergeist ans Werk gemacht haben. Meine Furcht jedenfalls bewegt sich nach drei Impfungen wieder in den Grenzen des Alltäglichen. 

"Fürchtet euch nicht" ist ein starker Satz

Trotzdem merke ich, dass ich die Engelsbotschaft in diesem Jahr anders höre, sie irgendwie brauche, vielleicht mehr als die Jahre davor.  "Fürchtet euch nicht!" das ist ein starker Satz, eine himmlische Ansage. Nicht nur für eine Pandemie. 

Ich denke an die ältere Dame, die in der Kirchenbank, mit Abstand, neben mir sitzt. Allerdings nah genug um zu sehen, dass sie immer wieder mit dem Taschentuch Tränen von Ihren Augen wischt. Später erzählt sie mir, dass ihr Mann in diesem Jahr gestorben ist und, dass es einfach so weh tut und so schwer ist.

Ich denke an das Paar, das sich so sehnlichst ein Kind wünscht und nun schon wieder, wenige Wochen vor Weihnachten, eine Fehlgeburt erleiden musste. Sie werden in diesem Jahr nicht in den Gottesdienst kommen, sagen sie. Die Geburtsgeschichte Jesu können sie momentan nicht ertragen.

Ich denke an den Familienvater und Gastronom, der mit bangem Blick auf das nächste Jahr schaut. Wenn die Lage sich nicht merklich bessert, weiß er nicht, ob er den Gasthof weiter halten kann.

Wenn wir heute Abend Weihnachten feiern, sind all diese und die vielen anderen Nöte, die uns bewegen, nicht weggewischt und nicht verschwunden. Sie treten vielleicht deutlicher hervor als sonst, legen sich auf unsere Seele, beschweren das Denken, machen das Herz schwer. 

Eine Botschaft, wie ein wärmender Mantel

Da mitten hinein geht die Botschaft der Heiligen Nacht, legt sich wie ein wärmender Mantel um uns.  Gott weiß um all das, erzählt sie. Er kommt in diese geschundene Welt, an unsere Seite, stellt sich in aller Furcht und Bedrängnis mit uns zusammen in den Wind. Auf eine stille und ruhige Art singt davon auch das wohl berühmteste Weihnachtslied. So als wolle es, wie ein Wiegenlied, den Orkan in meinem Innern besänftigen, mir die Furcht nehmen und mir zurufen: "Christ der Retter ist da." 

Rettung kommt aus Bethlehem

Wenn ich als Kind nachts aufgewacht bin und mich gefürchtet habe, dann haben mich meine Eltern meist wieder in den Schlaf gesungen. Später waren es Worte und Argumente von guten Freunden, die die Furcht vertrieben haben. In der Bibel gibt es einzigartige Bilder, die wie ein Banner gegen die Angst wirken. Gott als Adler, der seine Schwingen weit ausbreitet und uns beschützt, oder Gott als Hirte, der seine Schafe weidet und sie im Ernstfall auch verteidigt.  Und wie ein roter Faden zieht sich durch: 

Eine Frau, ein Kind, Bethlehem. Ein Code, den wir Christen nicht selbst erfunden, sondern von den Propheten des Alten Testaments übernommen und weitergetragen haben. Ohne diese jüdische Tradition ist das Christentum überhaupt nicht denkbar. Die Texte der neutestamentlichen Evangelien atmen in jeder Faser diesen Kontext. Wenn das Weihnachtsevangelium aus Lukas 2, Maria und Josef aufgrund einer Volkszählung nach Bethlehem reisen lässt , wenn bei Matthäus die Weisen aus dem Morgenland nach Bethlehem pilgern, um das neugeborene Kind zu sehen , und das Johannesevangelium festhält: "Aus dem Geschlecht Davids und aus dem Ort Bethlehem, wo David war, kommt der Christus" , dann berufen sie sich allesamt auf jene Gedanken, die der Prophet Micha circa 800 Jahre vor Christus in die Welt gebracht hat:

Du aber, Betlehem Efrata, bist zu klein,
um zu den Landstädten Judas zu zählen.
Doch aus deiner Mitte soll einer kommen,
der Herrscher sein wird in Israel.
Seine Wurzeln reichen zurück bis in die Urzeit,
seine Herkunft steht von Anfang an fest.
– Darum wird die Not nur so lange anhalten,
bis eine Frau das Kind zur Welt gebracht hat.
Dann wird der Rest seiner Brüder heimkehren
zu den Menschen in Israel. –
Er wird auftreten und sein Volk weiden.
Dazu gibt ihm der Herr die Kraft und die Macht.
Sie liegt in dem Namen des Herrn, seines Gottes.
Dann wird man wieder sicher im Land wohnen können.
Denn seine Macht reicht bis zum Rand der Welt.
Er wird sich für den Frieden stark machen. 

Bethlehem, die ewige Chiffre für Gottes Verheißung

Bethlehem, das ist so etwas wie die ewige Chiffre für Gottes Verheißung auf bessere Zeiten. Darin liegt Hoffnung auf Weltveränderung und der Schlüssel für Gerechtigkeit und Frieden. In diesem Wort klingt seit 3000 Jahren eine Melodie an, deren besondere Tonfolge, Move würde man heute sagen, zuweilen übertönt wurde, aber doch nie aus der Welt zu schaffen war. Bethlehem, etwa 10 km südlich von Jerusalem. Heute von hohen Mauern eingezäunt, wenn nicht gerade Pandemie herrscht - ein Magnet für Touristen, aber leider auch immer wieder für Gewalt. In biblischer Zeit ein kleiner unscheinbarer Ort. Hier nimmt es der Kleinste, der Jüngste aus diesem Nest, David, gegen den furchteinflößenden Goliath auf und wird zum König gesalbt.

Bethlehem, das steht dafür, dass das Kleine, das Unscheinbare nicht ausgeliefert ist, sondern eine besondere Kraft in sich trägt. Jedes Mal an Weihnachten hoffe ich, dass das wahr wird hinter den hohen Mauern in Bethlehem.  Gesehen habe ich es in diesem Jahr auf den Straßen von Myanmar. Eine Handvoll Demonstranten haben es gewagt, für Gerechtigkeit einzustehen und das angesichts massiver Drohungen einer Militärdiktatur, die nur die Sprache der Gewalt und der Waffen kennt. 

Gott sieht das Herz an

Aus Davids Zeiten stammt das Sprichwort: "Der Mensch sieht, was vor Augen ist; Gott aber sieht das Herz an." Das Offensichtliche, das Einschüchternde hat nicht das letzte Wort, sondern das was inwendig in uns ist, klein wie ein Samenkorn, in dem alles drinsteckt. Und über das man staunt, wenn es gegen allen Widerstand aufkeimt. Der Prophet Micha sieht solch eine Kraft in einem kleinen Kind, das sich entwickelt und seine Herrschaft nicht mit Waffengewalt erkämpft. Sondern wie ein Hirte das Volk weidet. Das Überraschende dabei ist die enorme Dimension, die Micha dieser Art des Herrschens zutraut: "Seine Macht reicht bis zum Rand der Welt und er wird sich für den Frieden stark machen." 

Der Macht der Großspurigen ist ein Ende vorausgesagt

Ob Jesus wirklich in Bethlehem zur Welt kam? Es gab damals keine Geburtsurkunden und keine allgemein gültige Zeitrechnung. Vieles spricht eher für den Geburtsort Nazareth in Galiläa. Aber die Evangelisten erinnern sich an die Bethlehem - Verheißung des Propheten Micha. Und sie sagen: "Jesus, der Handwerker aus Galiläa, der sich immer zu jenen stellt, die sich auf der Schattenseite des Lebens befinden, der mit Sanftmut und Freundlichkeit spricht, der das radikal einfache Leben der Hirten bevorzugt, er muss aus Bethlehem sein". 

Mit diesem Bethlehem-Code machen sie eine Ansage. An die Großspurigen, Besserwisser und Unterdrücker, an Menschen, die andere drangsalieren, sich mit Geld alles erkaufen oder mit Drohungen sich die Welt gefügig machen wollen. Noch agieren sie, aber ihre Tage sind gezählt. Die Kleinen, die Unscheinbaren, die Schwachen werden weit mehr bewirken. Ihre Kraft speist sich aus der Hoffnung und nichts kann sie schrecken. 

Die Künstlerin Shamsia Hassani gehört zu ihnen. Sie hat in Afghanistan jahrelang Graffitis an Wände gesprüht, damit die Menschen in dem vom Krieg zerrissenen Land endlich etwas anderes sehen. Seit der Machtübernahme durch die Taliban malt sie Frauen, bedroht von Gewehrkolben, Unterdrückung und Flucht. Hassani gibt Ihnen eine unglaubliche Würde und innerer Stärke. Diese Frauen lassen sich nicht unterkriegen. Auch wenn es unglaublich schwer ist und Hassani selbst sagt, dass sie eigentlich keine Hoffnung mehr hat. Dass es aber allemal besser ist, als hoffnungslos zu sein.

Worte, die die Furcht bändigen

"Fürchtet euch nicht", das ist Gottes Versprechen uns zu helfen, uns zu ermutigen und unsere Furcht zu bändigen. Es sind immer wieder Worte, die uns das ins Ohr und ins Herz tragen. "Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn er wird´s wohl machen." (Ps 37,5) "Ich bin das Licht der Welt, wer mir nachfolgt wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben." (Joh 8,12) Manchmal kann man solche starken Hoffnungsworte aber auch ganz wo anders finden.

In diesem Jahr hat Paul McCartney von den Beatles seine Autobiographie herausgebracht. Normalerweise nähren sich solche Werke von Tagebuchaufzeichnungen und Terminkalendern. McCartney geht ganz anders vor. Er hat solche Aufzeichnungen schlicht nicht. Er erzählt von seinem Leben aufgrund einer Auswahl von 154 seiner Songs, die er alphabetisch angeordnet hat. 
Im Vorwort, das ja auch immer eine gewisse Quintessenz eines Werkes beinhaltet, schreibt er, dass es ihm rätselhaft ist, wie das alles in seinem Leben passiert ist. Er benutzt sogar das Wort Mysterium und dann erzählt er: 

"Wir fuhren mit einem kleinen Transporter in den Norden – nur wir vier Beatles und unser Roadie. Es war eiskalt, ein heftiger Schneesturm tobte, und wir sahen die Hände nicht mehr vor unseren Augen, was aber eigentlich ganz gut gewesen wäre, weil wir ja im Wagen fuhren. Wir konnten nur noch den Rücklichtern der Autos vor uns folgen. Es schneite so heftig, dass die Straße nicht mehr zu erkennen war. Irgendwann kam unser Transporter von der Fahrbahn ab und schlitterte eine Böschung hinunter. Wir schauten zur Straße hinauf, durchgeschüttelt, aber unverletzt, und dachten: "Wie um Himmels willen sollen wir da wieder herauskommen?" Das war uns ein Rätsel. Ich weiß nicht mehr, wer es war, aber einer von uns sagte: "Wird sich schon was ergeben." …. Manche werden diese Einstellung "Wird sich schon was ergeben" für zu schlicht oder banal halten aber (…) Egal wie verzweifelt man ist, wie schlimm es aussieht, irgendetwas wird sich ergeben. Mir hilft das."

"Wird sich schon was ergeben"

"Fürchtet euch nicht, wird sich schon was ergeben." Auch das sind Worte, die Zukunft eröffnen. Wir bleiben auf unserem Weg nicht in irgendeiner Böschung stecken. Wir krabbeln, mit Gottes und der Menschen Hilfe wieder heraus. Wir kommen schon wieder auf die richtige Fährte.
McCartney besingt diese Hoffnung in seinem Song "Hope of Deliverance". Hoffnung auf Erlösung. Er entnimmt den Begriff aus der religiösen Tradition, versteht ihn als Suche nach Auswegen aus der Dunkelheit und gibt ihm einen vollen Klang, der ihn, wie er schreibt, an Weihnachten und Kirchen erinnert. 

Worte, die nur ein Engel sprechen kann

Hoffnung auf Veränderung, auf Licht, das feiern wir heute Abend. Und dabei blenden wir nicht aus, was wir in diesem Jahr erlebt, erlitten oder durchgestanden haben.
Aber ich möchte heute Abend auch auf die Erfahrungen blicken, die mich haben wachsen lassen. Auf die Menschen, die hilfreich waren. Und ich sehe auch auf goldene Lichtblicke und Worte, die mich berührt haben. Und in dem allen leuchten sie auf, die Worte, die nur ein Engel sprechen kann:

"Fürchtet euch nicht."