Zu einem Interview war Stefan Rosenzweig sofort bereit. Schließlich müsse die Idee von Housing First möglichst weit verbreitet werden, um diejenigen zu erreichen, die es wissen sollten, sagt er. Bevor er im Oktober 2020 über Housing First eine eigene Wohnung bekam, war er selbst einer von denen, die von diesem Projekt wissen sollten. Der gelernte Schreiner lebte hauptsächlich in Pensionen, übernachtete bei Freunden oder hin und wieder mal eine Nacht im Wald.
"Housing First" ist ein Konzept aus den USA
Die Koordination von Housing First in Nürnberg übernimmt der Sozialpädagoge Max Hopperdietzel. Housing First habe seinen Ursprung im New York der 1990er Jahre, erzählt er. Der Gedanke verbreitete sich Anfang der 2000er in Kanada und schließlich auch in Europa. Die Grundidee ist denkbar einfach: ein Mensch, der den größten Teil der Zeit auf der Straße lebt oder in Notschlafstellen unterkommt, braucht, bevor er wieder Arbeit finden und ein geregelteres Leben beginnen kann, vor allem eins: eine eigene Wohnung.
Lange sei es in der Obdachlosenhilfe genau andersherum gewesen, berichtet Hopperdietzel. Zuerst mussten alle anderen Bedingungen erfüllt sein, bevor eine eigene Wohnung überhaupt zur Sprache kam. Das hieß, erstmal wieder einen Job finden und im Falle einer Suchterkrankung, erstmal clean werden. Einen Job finden, ohne Meldeadresse und clean werden und bleiben, wenn man auf der Straße lebt? Klingt schwierig. Ohne Meldeadresse wird schließlich kein Arbeitslosengeld ausgezahlt, also auch kein Geld für Miete.
Das Obdachlosengeld ermöglicht zwar das tägliche Überleben, aber auch die Aufrechterhaltung dieses Teufelskreises. "Man braucht eine Meldeadresse, dass man erreichbar ist und selber auch was erreichen kann", erklärt Stefan Rosenzweig. Auf der Straße gehe es schließlich nur ums Überleben. "Wo soll denn da noch Platz für andere Dinge sein?" Es brauche also vor allem Platz - räumlich und gedanklich. Der soll mithilfe von Housing First eine neue Dimension bekommen.
"Housing First" wird jetzt auch in Deutschland eingesetzt
Ein Netzwerk aus dem Sozialmagazin Straßenkreuzer, den Vereinen Lilith, mudra und Hängematte will nun auch in Nürnberg einen Paradigmenwechsel in der Obdachlosenhilfe voranbringen. Seit Anstoß des Projekts durch Ilse Weiß vom Straßenkreuzer im Jahr 2019, hätten bereits acht Mietverhältnisse abgeschlossen werden können und das noch vor dem eigentlichen Projektbeginn in diesem Frühjahr, sagt Hopperdietzel.
Die Rahmenbedingungen beschränken sich auf direkte Mietzahlungen des Arbeitslosengeldes an die Vermieterinnen und den Abschluss einer Haftpflicht- , eventuell noch einer Hausratsversicherung. Auch die sozialpädagogische Betreuung muss nicht wahrgenommen werden. Es gelte das Prinzip der Freiwilligkeit, was bedeutet, dass Unterstützung auch abgelehnt werden darf, betont der Sozialpädagoge.
Rosenzweig nahm die angebotene Hilfe anfangs gern in Anspruch. "Ich war dafür sehr dankbar, habe mich aber nie kontrolliert gefühlt", sagt er. Um Kontrolle soll es schließlich auch nicht gehen, "Wir haben keinen erzieherischen Anspruch.", sagt Hopperdietzel und beschreibt weiter, dass es nicht Aufgabe der Obdachlosenhilfe ist, das Leben der betroffenen Menschen umzukrempeln, sondern eine Grundlage zu schaffen. "Es geht darum, dass die Menschen mit ihrem Leben gut klarkommen." Housing First bewerte nicht, sondern akzeptiere und unterstütze.
Neue Sichtweisen auf Obdachlosigkeiten erreichen
Housing First ist ein erster Schritt hin zu einer anderen Sichtweise auf Obdachlosigkeit und vor allem darauf, wie Menschen zu sein haben, um in einer eigenen Wohnung leben zu können. Die strikte Einteilung in gut und schlecht ist längst nicht mehr zukunftsfähig, sagen die Housing First-Unterstützer. Auch bei Suchtkrankheiten sei eine Aufspaltung in zwei feindliche Lager, abstinent oder abhängig, nicht mehr tragbar. Erfahrungen hätten gezeigt, dass mit dem Einzug in eine andere Wohnung auch der Suchtmittel- oder Alkoholkonsum abnehme, so Hopperdietzel. Housing First sei nicht die Lösung aller Probleme, bringe den Betroffenen aber eine sichere Basis. Rosenzweig bezeichnet Housing First als Start in ein vernünftigeres und glücklicheres Leben, allerdings ohne Garantie.
Natürlich wäre es sinnvoller, das Übel an der Wurzel zu beseitigen und Obdachlosigkeit gar nicht erst entstehen zu lassen. Eine Erhöhung des Hartz-IV-Satzes oder eine Mietpreisdeckelung könnten Probleme vermeiden, so Hopperdietzel. Grundsätzlich sei aber das Problem der fehlenden Durchlässigkeit sozialer Schichten allerdings nicht so leicht aus dem Weg zu schaffen. Die Lokalpolitik könne nur Symptome bekämpfen, sagt beispielsweise Stadträtin Andrea Friedel (Grüne). Die Ursachen von Obdachlosigkeit beseitigen, könne sie nicht. Obdachlosigkeit sei aber das Sichtbarmachen europäischer und globaler Probleme auf lokalpolitischer Ebene.
Die Notschlafstellen verbessern oder einen besseren Übergang aus der Haft in eine eigene Wohnung schaffen, das könne Lokalpolitik, meint Rosenzweig. Hopperdietzel beschreibt als besonders wertvoll das Engagement von Vermieterinnen und Vermietern, die ihren Wohnraum für Housing First zur Verfügung stellen. Alle, die Menschen wie Rosenzweig eine zweite Chance ermöglichen wollten, seien gefragt.