Ausgelassene Stimmung, Tanz, wummernde Bässe - und dann plötzlich Stille: Vor Beginn eines großen Open-Air-Konzerts mit Adel Tawil in der Dortmunder Innenstadt halten am letzten Abend des diesjährigen evangelischen Kirchentages mehr als 15.000 Menschen auf dem überfüllten Hansaplatz fünf Minuten schweigend inne und gedenken der im Mittelmeer ertrunkenen Bootsflüchtlinge. Banner mit den Namen Zehntausender Opfer werden kurz zuvor in einem Trauermarsch zur Reinoldikirche, dem Dortmunder Wahrzeichen, getragen und dort unter Glockengeläut am Turm hochgezogen - zwei Tage lang hatten Teilnehmer sie aufgeschrieben.

Der Kirchentag legt den Finger in eine offene Wunde Europas.

Von Skandal und einer Schande für die europäischen Staaten ist in Dortmund mehrfach die Rede, von Todesbooten in einem Tränenmeer, von einem Friedhof der Menschenrechte. "Europa verliert seine Seele, wenn wir so weitermachen", mahnt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm.

"Europa darf nicht töten, auch nicht durch unterlassene Hilfeleistung", fordert Kirchentagspräsident Hans Leyendecker und spricht von einem Verbrechen: "Man lässt zur Abschreckung die Flüchtlingsboote untergehen und die Flüchtlinge ertrinken." Pilatus habe sich die Hände in Unschuld gewaschen, europäische Politiker "waschen sie in dem Wasser, in dem Flüchtlinge ertrinken", sagt er im Schlussgottesdienst.

Als "Roter Faden Migration, Integration, Anerkennung" durchzog das Thema mit über hundert Diskussionen, Workshops, Ausstellungen und Aktionen das gesamte Programm und bildete damit einen Schwerpunkt des fünftägigen Kirchentages, der am 23. Juni zu Ende ging.

"Gemeinsam haben wir ein starkes Signal für humanitäres Handeln und gegen jedes 'Weiter so' gesetzt", bilanzierte die Schirmherrin, Präses Annette Kurschus von der gastgebenden Evangelischen Kirche von Westfalen.

Die Bandbreite reichte von Kirchenasyl über die Rolle von Religionen im Zusammenleben bis zu Integration im Sport.

Im Brennpunkt stand aber vor allem die Seenotrettung. Auf der Flucht vor Krieg, Terror und Not seien allein in den vergangenen fünf Jahren 18.000 Menschen zwischen Afrika und Europa ums Leben gekommen, 500 Tote seien es bereits in diesem Jahr, sagte Kurschus. "Das ist ein Skandal." Die unter anderem von Kirchen, Pro Asyl, Sea-Watch und dem Bündnis "Seebrücke" getragene Banner-Aktion "Jeder Mensch hat einen Namen" sollte auf die vielen Schicksale aufmerksam machen, auch die von unbekannten Toten - für sie blieben Leerstellen auf den Transparenten an der Reinoldikirche.

Der EKD-Migrationsbeauftragte Manfred Rekowski nannte die Toten Opfer einer verfehlten EU-Politik. "Mit jedem Ertrunkenen kommt auch unsere eigene Humanität und Würde in Gefahr", warnte der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland. "Was im Mittelmeer passiert, ist eine Schande", sagte auch der Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, der einst auf den Todeslisten der Mafia stand und von Leyendecker als einer der wichtigsten Streiter für Menschenrechte in Europa gewürdigt wurde. Migration gebe es zu allen Zeiten in allen Gesellschaften und der heutige Umgang damit widerspreche der eigenen Kultur und Geschichte.

Orlando warb auf einem Podium vor mehreren tausend Menschen eindringlich für die Initiative "Sichere Häfen", der sich in Deutschland rund 60 Städte angeschlossen haben - sie wollen Bootsflüchtlinge aufnehmen.

Bedford-Strohm sagte dazu in Richtung Bundesregierung: "Die Bereitschaft und die Möglichkeiten sind da, niemand kann mehr sagen, wir können die Flüchtlinge nicht aufnehmen."

Der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) kritisierte, dass die Bundesregierung bislang nicht auf das Angebot der Kommunen eingegangen sei. Die Rettung von Flüchtlingen aus Seenot sei "der Lackmustest, ob wir ein zivilisiertes Europa und ein zivilisiertes Land sind".

Scharf fiel auch die Kritik an der Kriminalisierung von Seenotrettern aus. Nicht diejenigen Menschen müssten sich rechtfertigen, "die im Moment als einzige überhaupt noch Leben retten, sondern diejenigen, die es verhindern", verlangte Bedford-Strohm. Die EKD muss nun überlegen, ob sie selbst noch stärker aktiv wird: Teilnehmer des Kirchentages forderten sie in einer Resolution auf, ein eigenes Schiff zur Seenotrettung ins Mittelmeer zu schicken.