1887 bei Fulda: Anna Helene Lucie Schotten wird geboren. Ihr Vater ist Richter, gutbürgerlich wächst sie auf, interessiert sich jedoch entgegen dem Frauenbild ihrer Zeit nicht für häusliche Tätigkeiten. Mit 18 Jahren schließt sie sich den deutschen Suffragetten in Frankfurt am Main an.
Gemeinsam kämpfen sie, wie ihre Vorbilder in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, für das Frauenwahlrecht, das Recht der Frauen, einen Beruf ergreifen zu dürfen und den Partner ihrer Wahl zu heiraten. "Da fing ihre Politisierung an", sagt Sunni Strewe.
Lucie Strewes Ehe mit Theodor Strewe
Lucie heiratet noch minderjährig den Rechtswissenschaftler und China-Experten Theodor Strewe. Mit ihm lebt sie 12 Jahre in China, wo sie zwei Söhne bekommt und ihr Ehemann als Geschäftsvertreter einer deutschen Firma tätig ist. Nach dem Ersten Weltkrieg kehren sie zurück nach Europa und ziehen nach Berlin. Obwohl sie sich sehr zugetan sind, gehen die politischen Ansichten des Ehepaars immer weiter auseinander.
Lucie Strewe und ihr Sohn Odo treten in die Kommunistische Partei Deutschlands ein, der Familienvater arbeitet als Journalist bei der konservativen "Deutschen Allgemeinen Zeitung" und ist im Deutschen Herrenklub aktiv.
Der Klassenkampf findet im eigenen Haushalt statt: Während sich Lucie Strewe für ein klassenloses Denken einsetzt, macht ihr Ehemann sie auf die Vorzüge des privilegierten Lebens aufmerksam.
Lucie Strewe verspürt von Beginn an eine tiefe Abneigung gegen das nationalsozialistische Regime. Gestärkt wird ihr Gefühl dadurch, dass ihr Sohn Odo 1937 aus Berlin fliehen muss, um einer Verhaftung der Gestapo zu entgehen. Er hatte Flugblätter verteilt. Und seine Mutter hatte ihn unterstützt.
Als sie erfährt, dass jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger deportiert werden oder ihnen keine Ausreisegenehmigung erstellt wird, bildet sich um Lucie Strewe ein Helferkreis.
Lucie Strewe nimmt heimlich Verfolgte auf
Als die Wohnung einer Freundin bombardiert wird und deren halb jüdischer Sohn Josef Scherek seinen Unterschlupf verliert, hilft ihm Lucie Strewe dabei, bei Bekannten für einige Zeit unterzukommen. Während einer Auslandsreise ihres Mannes nimmt sie ihn sogar heimlich im Haus der Strewes auf, wie sich Josef Scherek später erinnert: "Weder Herr Strewe noch das vorhandene Dienstmädchen durften von meiner Anwesenheit etwas merken."
Weitere Anfragen, ob sie Personen aufnehmen könne, erreichen Lucie Strewe. Die genaue Anzahl ist nicht bekannt. Ein Fluchthelferkreis kümmert sich um Ausreisevorbereitungen und gefälschte Pässe. Lucie Strewe organisiert unterdessen Unterschlupf und Verpflegung, teilweise auch in ihrem Bootshaus und der Familienwohnung.
"Da ich 6 Enkelkinder habe, halte ich es für erzieherisch schön, ihnen zu beweisen, daß man den Mut haben muß, den 'Weg der Menschlichkeit’ zu gehen, wie es seiner Zeit ihre Großmutter tat",
schreibt Lucie Strewe 1963 an den Berliner Innensenator. Eine durch ihre Mithilfe gerettete jüdische Familie und Josef Scherek unterstützen sie darin. Er betont: "Trotz ihrer gesellschaftlichen Stellung vertrat sie sowohl in ihrer Haltung als auch in ihren Handlungen das bessere Deutschland."
Dafür, dass sie "ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit bedrängten Verfolgten Schutz und Hilfe gewährt hat", ehrt der Berliner Senat Lucie Strewe schließlich 1966 im Rahmen der Initiative "Unbesungene Helden".
Erinnerung an die stille Heldin Lucie Strewe
Nach dem Krieg ist Lucie Strewe in keiner politischen Partei mehr, kann sich auch mit dem Stalinismus nicht identifizieren und zieht sich ins Familienleben zurück. Von 1950 an ist sie Witwe. "Die Weisheit des Lebens habe ich durch sie kennengelernt", sagt ihre Enkelin und erzählt davon, dass sie philosophische Texte mit ihr gelesen und über den Wert der Freiheit diskutiert habe. 1981 stirb Lucie Strewe mit 96 Jahren in Berlin.
Die von der Familie gegründete "Lucie Strewe Stiftung e.V." setzt sich seit 2016 für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit ein. Seit 2018 erinnert auch ein Platz in Berlin an die stille Heldin: Der "Lucie-Strewe-Platz" liegt in der Nähe ihres letzten Wohnhauses im Stadtviertel Zehlendorf, in dem sie auch auf dem Waldfriedhof begraben ist.
Literatur und Quellen
- Website der Lucie Strewe Stiftung e.V.
- Lucie Strewe Stiftung e.V. (2023): Die Stille Heldin Lucie Strewe – Eine Judenretterin aus Berlin (Kurzfilm).
- Jordan, Dirk (2014): Zehlendorfer Geschichte: Teil 4 der Serie "Stille Helden": Lucie Strewe und ihr Mut zur Menschlichkeit. In: Tagesspiegel, 14.01.2014.
- Sandvoß, Hans-Rainer (1986): Widerstand in Steglitz und Zehlendorf. PDF verfügbar über: Webseite Gedenkstätte Deutscher Widerstand.
- Website der Gedenktafeln in Berlin
- Buchholz, Boris (2018): Berlin-Zehlendorf: Platz erinnert an Lucie Strewe. In: Tagesspiegel, 15.05.2018.
Sunni Strewe erzählt von ihrer Großmutter Lucie Strewe.
Ausstellung "Frauen im Widerstand gegen Nationalsozialismus"
Die Ausstellung "Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus" stellt Frauen vor, die sich mutig gegen das NS-Regime gestellt haben. Diese Frauen halfen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, besorgten gefälschte Papiere, organisierten den Widerstand oder verteilten Schriften. Die Ausstellung zeigt prominente und weniger bekannte Frauen aus allen sozialen Schichten und politischen Lagern und verdeutlicht die Vielschichtigkeit des Widerstands sowie die Bedeutung dieser Geschichte für uns heute. Das Dossier mit den Porträts aller Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus finden Sie unter diesem Link.
Die Plakatausstellung ist ab 299 Euro in den Formaten A1, A2 und A3 erhältlich. Die Ausstellung eignet sich besonders für Bildungseinrichtungen wie Bibliotheken, Schulen, Volkshochschulen, aber auch für Gemeinden, Kommunen oder Verbände. LeihnehmerInnen erhalten kostenloses Pressematerial sowie eine Plakatvorlage und Pressefotos für die Werbung. Weitere Infos zur Ausstellung: ausstellung-leihen.de/frauen-widerstand-ausstellung
Diese Frauen sind Teil der Ausstellung "Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus”:
- HANSCHE, Hildegard (1896-1992)
- VADERS, Maria (1922-1996)
- INAYAT KHAN, Noor-un-Nisa (1914-1944)
- SEIDENBERGER, Maria (1927-2011)
- STREWE, Lucie (1887-1981)
- BEEK, Cato Bontjes van (1920-1943)
- MOLTKE, Freya Gräfin von (1911-2010)
- ROTHE, Margaretha (1919-1945)
- BERGER, Hilde (1914-2011)
- LEBER, Annedore (1904-1968)
- KARMINSKI, Hannah (1897-1943)
- OVEN, Margarethe von (1904-1991)
- FITTKO, Lisa (1909-2005)
- HAAG, Lina (1907-2012)
- ABEGG, Elisabeth (1882-1974)
- MENSAH-SCHRAMM, Irmela (*1945)
- REICHERT-WALD, Orli (1914-1962)
- KERN, Katharina Käthe (1900-1985)
Kommentare
Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.
Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.
Anmelden