Es steht noch heute da, das kleine, spitzgieblige Häuschen an der belebten Durchfahrtsstraße von Dachau Richtung Freising. Vor 90 Jahren pickten ein paar Hühner im Garten, und hinter dem Haus standen stattliche Bienenstöcke für fast zweihundert Völker. Damals bestand die Fahrbahn vor dem Zaun aus fest gestampfter Erde, und statt der heute dichten Wohnbebauung war nichts zu sehen außer Wiesen und Felder – bis hinüber zur sogenannten "Plantage" des KZ Dachau, wo täglich bis zu 2.500 Häftlinge schwerste Zwangsarbeit verrichten mussten. 

Es ist das Haus der Familie Seidenberger in Hebertshausen. Hier wohnt spätestens seit 1933 der Arbeiter Georg Seidenberger mit seiner Frau Katharina und den beiden Kindern Georg und Maria. Beide Eltern sind sozialdemokratischer Gesinnung; in ihrem Haus finden sich weder Hitler-Bilder noch sonstige NS-Symbole. Katharinas Vater, ein Dachauer Zimmermann, ist ein eingefleischter Sozi, sie selbst politisch interessiert. Ihr Mann Georg ist SPD-Mitglied, hadert aber offensichtlich immer wieder mal mit seiner Partei, was sich an seinen diversen Ein- und Austritten zeigt.

Maria Seidenberger: Augenzeugin von Häftlingszügen ins KZ Dachau

Das rettet vielleicht sein Leben: Maria Seidenberger erinnert sich daran, wie ihre Mutter weinte, als nach Hitlers Machtergreifung die ersten Häftlinge – darunter viele Sozialdemokraten und Kommunisten – am Elternhaus vorbei ins neu errichtete Konzentrationslager Dachau getrieben wurden. "Sie kannte manche der Leute", sagt Maria Seidenberger in einer Dokumentation des Bayerischen Rundfunks von 2006, die anlässlich der Verleihung des Dachauer Preises für Zivilcourage 2005 an die Hebertshauserin entstand. Georg Seidenberger jedenfalls ist 1933 gerade mal wieder nicht in der Partei – sonst wäre er womöglich selbst unter den Verschleppten gewesen.

Sympathien für die Nazis hegen die Seidenbergers also nicht, und sie sprechen zu Hause auch vor den Kindern frei über ihre politische Einstellung. Die wird auch in Kleinigkeiten deutlich: Als Maria 1933 mit sechs Jahren eingeschult wird, trägt sie keine deutschen Zöpfe wie die meisten ihrer Mitschülerinnen, sondern einen kinnlangen Bubikopf. Auch später, als sie zur NS-Organisation "Bund Deutscher Mädel" muss, ändert sich ihre Frisur nicht. 

Noch mit Mitte 70 erinnert sie sich an die Häftlinge, die auf dem Weg zum Arbeitskommando häufig an ihrem Haus vorbeikamen. In der BR-Doku sagt sie:

"Jeder konnte sehen, wie die schikaniert wurden. Und das war so sinnlos: Einen Haufen Kies den ganzen Tag auf die andere Seite mit den Schubkarren schieben – und am nächsten Tag wieder zurück."

Ihrer Großnichte berichtet sie in den seltenen Gesprächen über die Kriegszeit, dass sie die Schüsse und die Schreie vom grade mal einen Kilometer entfernten KZ-Schießplatz hören konnten, der ab 1941 als Hinrichtungsstätte vor allem für sowjetische Kriegsgefangene genutzt wurde. All diese Erlebnisse gingen dem Mädchen offensichtlich unter die Haut: "Eine schöne Kindheit war das nicht", stellt Seidenberger beim Gedanken daran nüchtern fest.

Maria Seidenberger und der tschechische Journalist Karel Kašák

Im Mai 1944 kommt es dann zu einer entscheidenden Begegnung: Ein Nachbar, der als Gärtner auf der "Plantage" des KZ arbeitet, bringt die Seidenbergers in Kontakt mit dem tschechischen Journalisten Karel Kašák (1906-1991). Der war seit 1939 im Konzentrationslager Dachau inhaftiert und wurde dort Teil eines kleinen "Künstlerkommandos", das für die SS an einem Prestigeprojekt arbeiten musste: Die "botanischen Maler" sollten die im Kräutergarten gezüchteten Heil- und Gewürzpflanzen für eine Art Kompendium zeichnen.

1943 wurde Kašák sogar aus der Haft entlassen – unter der Bedingung, als ziviler Angestellter bei den Zeichnern weiterzuarbeiten. So konnte er sich relativ frei bewegen und mit seinem Anliegen das kleine Giebelhäuschen der Seidenbergers aufsuchen: Er brauchte jemanden, der seine illegalen Fotos von Mithäftlingen und dem Lagerleben, die er mit der offiziellen "Dienstkamera" gemacht hatte, auch entwickelte.

Am 14. Mai 1944, so hält Kašák es in seinem Tagebuch fest, wird er bei den Seidenbergers vorstellig. Er überzeugt sich von der regimekritischen Haltung der Familie und bekommt von Maria Seidenberger die Zusage für "gelegentliches Entwickeln, Abziehen und Vergrößern meiner Fotographien (…) auch solcher, die illegalen Ursprungs sind".

Maria Seidenberger: Der Mut einer 17-Jährigen

Doch dabei bleibt es nicht allein: Im Auftrag von Kašák verschickt das Mädchen, das in München bei der Firma Soennecken & Co als Fotolaborantin in Lehre war, zwischen Mai und November 1944 etwa 30 bis 40 Briefe mit Fotos – und fingierten Absendern – an die Familien der Häftlinge, meist ins "Reichsprotektorat Böhmen und Mähren". 

Die dankbaren Antwortbriefe landen wiederum bei den Seidenbergers im Hebertshauser Briefkasten – Kašák hatte in den Schreiben einfach diese Adresse angegeben. Im Rückblick räumt Maria Seidenberger ein, dass das "wahnsinnig dumm" und "nicht ungefährlich" gewesen sei. Doch der Trotz und die Dickköpfigkeit, die schon die 17-Jährige auszeichneten, klingen auch bei der Seniorin gut 60 Jahre später noch durch. Man kann das vorgeschobene Kinn geradezu sehen, wenn sie in der BR-Doku sagt: 

"Manche Sachen macht man, oder man macht sie nicht. Ich hab keine Zeit gehabt für die Angst."

So wird das Häuschen der Seidenbergers für ein halbes Jahr zum Umschlagplatz für Hoffnung in finsteren Zeiten. Briefe in die und aus der Heimat transportieren Kraft zum Durchhalten, und Karel Kašák trägt die mutmachenden Nachrichten über den Frontverlauf, die er mit Marias Familie beim "Feindsender" abhört, ins KZ, wo sie sich von Mund zu Mund weiterverbreiten. 

Ab Dezember 1944 finden die Briefwechsel ein Ende, weil Maria zum Reichsarbeitsdienst eingezogen wird und kein Labor mehr zur Verfügung hat. Kurz vor Kriegsende versteckt sie Kašáks aus 1.700 Zetteln bestehendes Tagebuch kurzerhand in einem der Bienenstöcke hinterm Haus, weil er, der mittlerweile zum geliebten Freund geworden ist, Angst hat, doch noch entdeckt zu werden. 

Maria Seidenberger dokumentiert den Todesmarsch

Als die SS in den letzten Kriegstagen erschöpfte und ausgehungerte Häftlinge auf den Todesmarsch treibt, der direkt am Haus der Seidenbergers vorbeiführt, greift Maria zur Kamera und macht heimlich Fotos aus dem ersten Stock. Anschließend stellt sie sich zur Mutter an die Straße, die gekochte Kartoffeln an die Männer und Frauen verteilt. "Das war grauenhaft", erinnert sich Maria später, "sie waren so ausgehungert, in Fetzen statt Kleidung, und haben fast gerauft um die Kartoffeln."

Ein Wachmann schnauzt Maria an. "Er hat gesagt, ich soll mich schleichen, sonst kann ich auch gleich mitmarschieren", sagt Seidenberger in der BR-Doku von 2006.

Als der Krieg zu Ende ist, geht Maria mit Karel Kašák nach Prag. Dass der 20 Jahre ältere Mann bereits Frau und Kinder hat, erfährt sie wohl erst dort. So ist die Beziehung letztlich zum Scheitern verurteilt; dennoch bleibt Maria 14 Jahre lang in der tschechischen Hauptstadt. 1959 kehrt sie nach Hebertshausen zurück.

Ihr Bruder Georg, der als 20-jähriger verheirateter Vater von zwei Buben noch an die Front musste, ist nie nach Hause zurückgekehrt. Er sei 1951 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft gestorben, heißt es später. Seine Witwe heiratet erneut, doch zwischen den beiden Familienzweigen gibt es wenig Kontakt. Maria zieht wieder bei ihren Eltern ein und pflegt sie bis zum Tod Ende der 1980er-Jahre. Sie selbst bleibt ledig und kinderlos.

Preis für Zivilcourage für Maria Seidenberger

Doch ihre Kamera wird zur treuen Begleiterin: Davon zeugen die zahlreichen Aufnahmen in dem großen Familienalbum, das ihre Großnichte verwahrt. Sie zeigen die alten Seidenbergers auf ihren späteren Reisen, nach Prag, in die Berge, oder bei Familienfesten. Und immer wieder auch Maria Seidenberger, die zwei Dinge Zeit ihres Lebens nicht ablegt: die gewisse Pausbäckigkeit, die sie noch im hohen Alter jung aussehen lässt. Und den trotzigen, tiefen Blick aus den dunklen Augen, der den Betrachter jedes Mal herauszufordern scheint.

Den Preis für Zivilcourage der Stadt Dachau hat Maria Seidenberger, die selten über die Kriegszeit gesprochen hat, erst nach langem Zureden 2005 angenommen. "Ehrlich gestanden ist mir das peinlich", sagt sie in der BR-Doku. Das sei alles schon so lang vorbei und überhaupt: "Wen hat das schon groß interessiert?"

Doch für ein paar Menschen ist das, was die damals 17-Jährige ohne großes Nachdenken getan hat, noch heute wichtig. Nach ihrem Tod im September 2011 wurde Maria Seidenberger im Familiengrab auf dem Hebertshauser Friedhof beigesetzt. "Seither legen immer wieder Menschen Steine auf dem Grabstein ab", berichtet die Großnichte. Das entspricht einer jüdischen Tradition, bei der die Toten mit dieser Geste geehrt werden. Sie zeigt: Der Mensch, der hier ruht, ist nicht vergessen. Dieser Mensch ist: Maria Seidenberger.

Ausstellung "Frauen im Widerstand gegen Nationalsozialismus"

Die Ausstellung "Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus" stellt Frauen vor, die sich mutig gegen das NS-Regime gestellt haben. Diese Frauen halfen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, besorgten gefälschte Papiere, organisierten den Widerstand oder verteilten Schriften. Die Ausstellung zeigt prominente und weniger bekannte Frauen aus allen sozialen Schichten und politischen Lagern und verdeutlicht die Vielschichtigkeit des Widerstands sowie die Bedeutung dieser Geschichte für uns heute. Das Dossier mit den Porträts aller Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus finden Sie unter diesem Link.

Die Plakatausstellung ist ab 299 Euro in den Formaten A1, A2 und A3 erhältlich. Die Ausstellung eignet sich besonders für Bildungseinrichtungen wie Bibliotheken, Schulen, Volkshochschulen, aber auch für Gemeinden, Kommunen oder Verbände. LeihnehmerInnen erhalten kostenloses Pressematerial sowie eine Plakatvorlage und Pressefotos für die Werbung.  Weitere Infos zur Ausstellung: ausstellung-leihen.de/frauen-widerstand-ausstellung

Diese Frauen sind Teil der Ausstellung "Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus”:

  1. HANSCHE, Hildegard (1896-1992)  
  2. VADERS, Maria (1922-1996)  
  3. INAYAT KHAN, Noor-un-Nisa (1914-1944) 
  4. SEIDENBERGER, Maria (1927-2011) 
  5. STREWE, Lucie (1887-1981) 
  6. BEEK, Cato Bontjes van (1920-1943) 
  7. MOLTKE, Freya Gräfin von (1911-2010) 
  8. ROTHE, Margaretha (1919-1945) 
  9. BERGER, Hilde (1914-2011) 
  10. LEBER, Annedore (1904-1968) 
  11. KARMINSKI, Hannah (1897-1943) 
  12. OVEN, Margarethe von (1904-1991) 
  13. FITTKO, Lisa (1909-2005) 
  14. HAAG, Lina (1907-2012) 
  15. ABEGG, Elisabeth (1882-1974) 
  16. MENSAH-SCHRAMM, Irmela (*1945) 
  17. REICHERT-WALD, Orli (1914-1962)
  18. KERN, Katharina Käthe (1900-1985)

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