Maria "Mary" Vaders, die Rädelsführerin 

Das Fließband stand still, die Frauen verschränkten die Arme, stimmten Kampflieder an und erklärten dem wütenden Kommandanten Kurt Konrad Stirnweis, dass es erst weitergehe, wenn die Suppe aus lauwarmem Wasser und Kohlkrümeln künftig durch Nahrhafteres ersetzt würde. Dem SS-Mann half kein Toben und kein Drohen: Er musste sich fügen, damit die Produktion von Zeitzündern für Flakgranaten wieder anlief.

In einem Akt der Vergeltung versuchte er dennoch, einer der Aufständischen die Schuld am Streik zu geben. Nachdem weder Strafappelle noch Erpressung den Zusammenhalt der Frauen brechen konnten, wurde kurzerhand die 22-jährige Maria "Mary" Vaders zur Rädelsführerin des Arbeitskampfs bestimmt und für sieben Wochen in den gefürchteten "Bunker" geschickt, das Lagergefängnis des Konzentrationslagers Dachau. Nahrungsentzug, Dunkelheit, Misshandlungen, Folter waren hier an der Tagesordnung.

"Ein Gitterloch, eine dicke Mauer / das Sonnenlicht, wie ich Struktur / kann den Weg durch das Loch nicht finden / allein, ich bin allein", schrieb Vaders in einem ihrer Gedichte über die Wochen der Einzelhaft.

Die sieben Wochen in Isolation stehen einer ungewöhnlichen Gemeinschaft gegenüber, deren Mitglied Mary Vaders war und die über das Kriegsende hinaus Bestand hatte. "Ehrenvoll gemeinsam überlebt und stets zusammengehalten", so fasste das "Frauenkomitee Dachau", dessen Gründungsvorsitzende Mary Vaders war, sein Überlebensmotto zusammen. Und so kann Vaders Geschichte nicht ohne die anderen "Agfa-Frauen" erzählt werden: Von Renny van Ommen über Willemijn Petroff-van Gurp bis zu Kiky Gerritsen-Heinsius und den vielen anderen, von denen nur die Namen geblieben sind, die aber das gleiche Schicksal teilten.

Mary Vaders organisierte Lebensmittelkarten und Ausweise für den Widerstand

Viele der Frauen waren vor ihrer Verhaftung für die niederländische Widerstandsgruppe "Landelijke Organisatie voor Hulp aan Onderduikers" (LO) aktiv gewesen, die NS-Verfolgte versteckte und untergetauchten Menschen half. Auch Mary Vaders mischte als Angestellte der Amtsdirektion Den Haag mit und organisierte Lebensmittelkarten, Ausweise und Stempel für den Widerstand und die Versorgung der Illegalen. Ihre Eltern waren offenbar eingeweiht: Sie habe ihre Mutter, so sagte Vaders einmal, auf eine mögliche Verhaftung vorbereitet.

Über die Motive der jungen Frau ist wenig bekannt. Andere wie die überzeugte Protestantin Renny van Ommen, in deren Wohnung Sitzungen der Widerstandskämpfer stattfanden, handelten aus tiefer christlicher Überzeugung – oder aus purem Gerechtigkeitssinn, wie Willemijn Petroff-van Gurp, die als Kurier der LO Essensmarken, gefälschte Ausweise und sogar Dynamit schmuggelte. 

In einem Interview mit dem Dachauer "Gedächtnisbuch"-Verein sagte Maria Vaders 2012, sie habe sich aus einem einfachen Grund dem Widerstand angeschlossen: "Ich ertrage Ungerechtigkeit nicht."

Die meisten der Frauen wurden im Frühjahr und Sommer 1944 in den Niederlanden verhaftet, nachdem ihre Widerstandszellen verraten worden waren. Mary schnappte die Gestapo am 20. Juni und brachte sie ins Gefängnis nach Scheveningen – dass sie lesbisch war, blieb bei ihrer Verhaftung unentdeckt, sie wurde als politischer Häftling geführt. Ob sie dort schon auf Willemijn stieß, die neun Tage zuvor in Scheveningen inhaftiert wurde, ist unbekannt. Später wurden beide ins Konzentrationslager Vught verbracht. Dort saßen bereits seit März Kiky Heinsius und seit Mitte Mai Renny van Ommen in Haft. Letztere pflegte dort mithilfe einer geschmuggelten Bibel und ihrem unerschütterlichen Gottvertrauen eine kleine Gemeinde, die auch später "zusammengeblieben ist, bis zur Befreiung", wie sie in ihren Erinnerungen schreibt.

Maria Vaders und die Agfa-Frauen: Eine Stütze im Konzentrationslager 

Sicher ist, dass die späteren Agfa-Frauen seit dem 8. September eine Gemeinschaft bildeten: An diesem Tag evakuierte die SS das Lager Hals über Kopf, weil es den Anschein hatte, als seien die alliierten Truppen bereits auf dem direkten Vormarsch. In stickige Viehwaggons gepfercht, so dass nie alle sitzen und selten eine liegen konnte, fuhren die Frauen zwei Tage lang dem KZ Ravensbrück entgegen.

An ihre Ankunft dort erinnern sie sich unterschiedlich: "Singend marschierten wir vom Bahnhof zum Lager Ravensbrück", schreibt Renny van Ommen stolz, für die der Glaube, die Psalmen, die vertrauten Kirchenlieder auch in der Hölle der Konzentrationslager eine Stütze waren. Kritischer ist Willemijn Petroff-van Gurp: "Es war menschenunwürdig. Die Frauen dort waren so ausgehungert. (…) Wir warfen Brot hinüber, wie Affen im Zoo. (…) Es war deprimierend." 

Mary Vaders fasste die Situation und ihre düstere Vorahnung später in einem Gedicht zusammen: "Wir werden so wie alle / hunderte, tausende / eine Nummer, grob und roh."

Sechs harte Wochen blieben die Frauen in Ravensbrück, schleppten Sandsäcke, erduldeten Schikanen, Hunger, Krankheiten und die schmutzige Enge der Baracken mit ihrem Ungeziefer. Wie wichtig der Zusammenhalt unter den Frauen für das Überleben im KZ war, beschrieb Willemijn Petroff-van Gurp bei einer Gedenkveranstaltung im Jahr 2015:

"Ich spüre noch immer die Wärme von Mary Vaders, als sie beim Appell in Ravensbrück, wo wir stundenlang in zu dünner Kleidung im Frost stillstehen mussten, ihre Arme um mich legte."

Im Widerstand und im Lager habe sie gelernt, "wie wichtig es ist, in der Freundschaft treu zu sein, füreinander da zu sein". Solche Freundschaft sei im KZ, wo Menschen schutzlos und verloren waren, "ein Gottesgeschenk" gewesen.

Die Niederländerinnen hatten Glück im Unglück: Am 12. Oktober 1944 wurden etwa 200 Landsfrauen nach Dachau geschickt, um in der dortigen KZ-Außenstelle Giesing bei den Agfa-Werken Rüstungsgüter zu produzieren. Die Schichten in der Fabrik dauerten zwölf Stunden, die Verpflegung war karg, die Jacken zu dünn, die Betten wegen der gesprungenen Fenster oft mit Schnee und Raureif überzogen, es gab Krankheiten wie Flecktyphus und Tuberkulose und die ständige Drohung, nach Ravensbrück zurückgeschickt zu werden.

Und doch: Nur acht Frauen teilten sich ein Zimmer in der zum Lager umfunktionierten Mietskaserne, man feierte die Geburtstage, sang gemeinsam und an drei Abenden und sonntags luden Renny van Ommen und ihre Zimmergenossinnen zum Bibellesen ein. Niemand könne sich vorstellen, "wie schön es war mit all den unterschiedlichen Frauen, von der Zahnärztin bis zur Bardame, Christlich Reformierte, Römisch-katholische und Lutherische, zu singen", schreibt sie in einer Erinnerung.

Überlebenskampf während der Wintermonate

Und noch immer war der Widerstand der Frauen ungebrochen. In einem Protestbrief des "Frauenkomitees Dachau" von 1993, mit dem die Niederländerinnen einer einseitigen Darstellung des Historikers Ludwig Eiber widersprachen, beschreibt Generalsekretärin Mary Vaders die Situation im Außenlager: "Wir sabotierten im Agfa-Kommando und in der Fabrik. (…) Der Agfa-Konzern hatte es mit uns schlecht getroffen. Tausende kaputte Zeitzünder wurden abgelehnt und zurückgeschickt.

Aber was sie auch taten, wir ließen uns nicht erwischen, wir waren erfindungsreich." Ein Überlebenskampf waren die Wintermonate im Arbeitskommando dennoch. "Der Hunger ist mit keinem Stift zu beschreiben", notierte Vaders im Rückblick, warme Kleidung gab es nicht, "wir sind beinahe an der Kälte gestorben." Und Tag und Nacht fielen die Bomben.

Wie Mary Vaders, die 22-Jährige mit der Häftlingsnummer 123145, nach dem spontanen Arbeitsstreik im Januar 1945 das Urteil zu sieben Wochen Bunkerhaft aufgenommen hat, ist nicht überliefert. Während der Haft im gefürchteten Lagergefängnis des KZ Dachau wurde die junge Frau so krank, dass sie für zwei Wochen in die Quarantänebaracke verlegt wurde. "Nichts konnte ich essen, nicht mal Milch ging noch durch die Kehle", schrieb Vaders später in einem Gedicht. Gert Nales, ein niederländischer Arzt und Häftling, rettete ihr Leben, indem er Mary in der Krankenstation pflegte und aufpäppelte. Halbwegs wiederhergestellt, musste sie die restliche Strafe im Bunker absitzen.

"Sie hat nur knapp überlebt", schreibt Rennys Sohn Jan van Ommen in einem Bericht von 2017 über das Agfa-Kommando. Ihre Gefährtinnen bangten offensichtlich um sie. So erinnerte sich Willemijn Petroff-van Gurp 2012: "Nach ihrer Rückkehr sorgte der Streik für ein Triumphgefühl unter den Frauen." 

Maria Vaders Gedicht "Bunker-Sinfonie"

Vaders selbst hielt ihre Erinnerungen später in Gedichtform fest. Ihr Mut, ihre Willenskraft und ihre Unerschrockenheit kommen in einem Zitat im Erzählband "Mein Schatten in Dachau" zum Ausdruck: "Im Bunker habe ich nicht geschrieben, das war zu gefährlich", wird Mary Vaders dort zitiert. "Ich hatte einen Bleistift in meinen Haaren versteckt und konnte irgendwann eine kurze Notiz auf Toilettenpapier stenografieren. Später habe ich dann alle meine Gedanken aufgeschrieben." Ihr Gedicht "Bunker-Sinfonie" vermittelt einen Eindruck von der Haft – und ein Gefühl dafür, woraus sie vielleicht ihre Kraft schöpfte: 

Man sitzt auf der Pritsche
und schaut die Mauer an
eine kahle, eine weiße
und eine ganz dicke Mauer 

in tiefer Meditation
erklingt die Musik
(…) Beethovens Klänge
voller prächtiger Romantik

man hört Violinen
die Harfe, die hohe Flöte
voller glückreicher Töne
die klar zu dir kommen
solange du die Augen schließt

Ein Chor singt und jubelt
ein mächtiger Klang
die Menschen sind Brüder
solange du die Augen schließt

die Menschen sind Brüder
und töten einander
verwüsten die Städte
das ist jetzt Gegenwart
voller Hass und Gefahr

Die Menschen sind Brüder
man sitzt in einer Zelle
schaut zu den Gittern
die Erde eine Hölle

ein Ritz im kleinen Fenster
ein kleines Stückchen Himmel
eine Wolke schwebt lautlos vorüber
eine traurige, dumme Farce

die Menschen sind Brüder
so jubelt der Chor
die Zellentür springt auf:
Raus zum Verhör!
 

Maria Vaders Versuch eines Neuanfangs in den Niederlanden

Am 27. April 1945 räumte die SS das Außenlager Giesing. Die Frauen wurden auf einen Marsch Richtung Süden getrieben. Am 30. April befreiten US-Truppen die Frauen in Wolfratshausen. 

Doch mit dem Krieg endete keineswegs die Gemeinschaft der Agfa-Frauen. Die meisten kehrten in die Niederlande zurück und versuchten einen Neuanfang. In einem Formular für die erste Begegnung von Ravensbrück-Überlebenden vom 15. Dezember 1945 antwortete Mary Vaders auf die Frage, ob sie im Besitz der nötigsten Kleidung, des nötigsten Hausrats sei auf ihre trockene Art: "Mag niet mopperen", zu deutsch: "Will nicht meckern."

eSie nahm eine Stelle beim Niederländischen Büro für Nationale Sicherheit an und war Gründungsmitglied und Generalsekretärin des "Frauenkomitees Dachau", das sich gebildet hatte, weil die Frauen sich von den Männern im allgemeinen Dachaukomitee mit ihrer Widerstandsleistung nicht ernst genommen fühlten.

Als Generalsekretärin organisierte Mary bis in die 1990er-Jahre hinein regelmäßig Treffen für die niederländischen Zwangsarbeiterinnen, von denen viele – wenn überhaupt – erst in ihren letzten Lebensjahren öffentlich von ihren Erfahrungen berichteten. Wie wichtig diese Begegnungen für die Frauen waren, schildert Jan van Ommen in einem Bericht über seine Mutter Renny: "Sie versäumte kein Treffen der "Vrouwen von Dachau" oder "Ravensbrück". Noch als 91-Jährige, als sie schon längst ihr Sehvermögen verloren hatte und an den Rollstuhl gebunden war, bestand sie darauf, von meiner Schwester zu den Treffen chauffiert zu werden. Sie wird nur dort gebührend Verständnis erfahren haben." 

1988 erhielt Mary Vaders den niederländischen Verdienstorden, den Orden von Oranien-Nassau. Am 4. Januar 1996 ist die streitbare, schlagfertige Kämpferin gestorben. Das NS-Dokumentationszentrum München hat ihre Biografie im Jahr 2022 in seine Ausstellung "To Be Seen. Queer Lives 1900-1950" übernommen.

Literatur und Quellen

Bericht der NS-Verfolgten Kiky Gerritsen-Heinsius, dt. Übersetzung von 2019.

Commentaar op Ludwig Eiber: offizielles Schreiben des Frauenkomittees Dachau vom Juni 1993, Unterzeichnende: Mary Vaders.

Der Zweite Weltkrieg in den Niederlanden. Verzetsmuseum Amsterdam.

Frauen im KZ Dachau. PDF, Haus der Bayerischen Geschichte.

Het Agfa Kommando: Nederlandse vrouwen in een Dachau buitenkamp.

Jan van Ommen, Die niederländischen Frauen des Agfa-Kommandos in München, Aufsatz von 2017.

NS-Dokuzentrum München, Ausstellungskatalog "To Be Seen - Queer Lives 1900-1950".

Telefonat mit Jan van Ommen im April 2024.

"Want ik ben verzekerd… Eine Bibel im Konzentrationslager." Bericht der NS-Verfolgten Renny van Ommen (Autor: Jan van Ommen, 2012).

Willemijn Petroff-van Gurp: "Das hätten wir nie von dir gedacht", PDF, 7. November 1918.

Ausstellung "Frauen im Widerstand gegen Nationalsozialismus"

Die Ausstellung "Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus" stellt Frauen vor, die sich mutig gegen das NS-Regime gestellt haben. Diese Frauen halfen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, besorgten gefälschte Papiere, organisierten den Widerstand oder verteilten Schriften. Die Ausstellung zeigt prominente und weniger bekannte Frauen aus allen sozialen Schichten und politischen Lagern und verdeutlicht die Vielschichtigkeit des Widerstands sowie die Bedeutung dieser Geschichte für uns heute. Das Dossier mit den Porträts aller Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus finden Sie unter diesem Link.

Die Plakatausstellung ist ab 299 Euro in den Formaten A1, A2 und A3 erhältlich. Die Ausstellung eignet sich besonders für Bildungseinrichtungen wie Bibliotheken, Schulen, Volkshochschulen, aber auch für Gemeinden, Kommunen oder Verbände. LeihnehmerInnen erhalten kostenloses Pressematerial sowie eine Plakatvorlage und Pressefotos für die Werbung.  Weitere Infos zur Ausstellung: ausstellung-leihen.de/frauen-widerstand-ausstellung

Diese Frauen sind Teil der Ausstellung "Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus”:

  1. HANSCHE, Hildegard (1896-1992)  
  2. VADERS, Maria (1922-1996)  
  3. INAYAT KHAN, Noor-un-Nisa (1914-1944) 
  4. SEIDENBERGER, Maria (1927-2011) 
  5. STREWE, Lucie (1887-1981) 
  6. BEEK, Cato Bontjes van (1920-1943) 
  7. MOLTKE, Freya Gräfin von (1911-2010) 
  8. ROTHE, Margaretha (1919-1945) 
  9. BERGER, Hilde (1914-2011) 
  10. LEBER, Annedore (1904-1968) 
  11. KARMINSKI, Hannah (1897-1943) 
  12. OVEN, Margarethe von (1904-1991) 
  13. FITTKO, Lisa (1909-2005) 
  14. HAAG, Lina (1907-2012) 
  15. ABEGG, Elisabeth (1882-1974) 
  16. MENSAH-SCHRAMM, Irmela (*1945) 
  17. REICHERT-WALD, Orli (1914-1962)
  18. KERN, Katharina Käthe (1900-1985)

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